Bildungswirklichkeit

Geschichtliche Wirklichkeit, die wissenschaftlich erkannt werden kann und praktisch bestanden werden muß, ist eine Wirklichkeit im Werden, auf deren Bildungsprozesse verantwortlich Einfluß zu nehmen ist, wenn das Böse bekämpft werden soll. Wenn metaphysisch Wirklichkeit als Ganze interpretiert werden soll, liegt immer schon eine angeeignete Wirklichkeit zugrunde, die irgendwie verarbeitet ist, jedenfalls wahrhaftig verarbeitet werden müßte. Wahrhafte Bildung hat ein überzeugungsfähiges Orientierungsideal im Blick und eine vernünftige Erziehungspraxis zur Basis, wenn sie der reflektierten Wirklichkeit gerecht werden soll. Was Bildungspolitik dabei grundsätzlich beachten muß, beschreiben die folgenden Punkte.

Allgemeines

Bildungspolitik kann langfristig nur erfolgreich sein, wenn sie sich der Wirklichkeit in ihrem ganzen Umfang stellt. Die grundsätzlicheSubjektivität der Wirklichkeit darf dabei genausowenig unberücksichtigt bleiben wie die jeweiligen Umweltvoraussetzungen, die Erziehungsbedingungen, die Bildungsinhalte, die Bildungsorganisation oder die Möglichkeiten der Bildungsdurchsetzung durch Druck und Motivation. Bildungspolitik hat nur einen gültigen Auftrag: Die Wirklichkeit so unverstellt wie möglich "in Wahrheit" und "in Wirklichkeit" den Subjekten nahezubringen. Alle Bildungsüberlegungen, Bildungsstrategien und Nützlichkeitsbegründungen müssen sich darauf zurückführen lassen. Gelingt es, reorganisieren sich Bildungsprozesse von selbst.

Wirklichkeit ist metahysisch subjektiv vermittelt und objektiv immer nur nachträglich konstruktiv herzustellen. Der Bewußtseinshorizont der Subjekte bestimmt, was urteilsmäßig in letzter Instanz als real zu gelten hat. Die objektiven Realitäten bringen sich dabei mehr oder weniger freiwillig zur Geltung, indem sie ihre Nichtbeachtung bestrafen. Die subjektiven Meinungen aber sind frei und an den jeweiligen Bewußtseinshorizont gebunden, den die Individuen entwickelt haben. Dieser Bewußtseinshorizont ist durch soziale Umstände, Erziehung und Bildungseinflüsse aller Art entstanden und veränderbar. Es kommt darauf an, ihn von seinen eigenen Voraussetzungen her zu entfalten. Bildungspolitik darf keine zweckgerichtete Abrichtung sein!

Bildung findet stets in einem sozialen Umfeld statt, das sich einer direkten Steuerbarkeit entzieht. Das historische und gesellschaftliche Umfeld muß ohnehin als schicksalsgegeben hingenommen werden. Aber auch die privaten Kontakte und Gruppenbeziehungen spielen sich weitgehend ohne die Kontrolle von Eltern, Schule oder Öffentlichkeit ab. Der Einfluß der Medien entzieht sich in dem Maß immer mehr erzieherischer Kontrolle, wie er flächendeckender und variantenreicher wird. Bildungspolitik muß das Bildungsumfeld so berücksichtigen., daß es in den Bildungsprozeß so weit wie möglich integriert wird. Dazu muß sich das Bildungswesen für alle Bildungsträger öffnen.

Erziehung ist das faktisch Unumgängliche, das überall stattfindet, wo Subjekte sich in ihrer Umwelt von klein auf entfalten. Auch wenn bewußt kein Erziehungseinfluß ausgeübt wird, findet Erziehung statt. Erziehung ist insofern nicht hintergehbar und nur entweder bewußt zu verantworten oder wegsehend ihrem Schicksal zu überlassen. Bildungspolitisch kommt es darauf an, daß alle Bildungsinstitutionen und Bildungswelten ihrer erzieherischer Verantwortung bewußt und gewachsen werden. Gefordert sind natürlich zuerst die Familien, soweit es sie noch gibt. Ihnen muß im weit höheren Maß Orientierung zuteil werden denn gegenwärtig.

Bildung ist die Aufnahme und Verarbeitung von Informationen zu einem Wissen, das es erlaubt, sinnvoll zu lernen vor dem Hintergrund eines grundsätzlichen Grundwissens , das vernünftiges Denken und Handeln möglich macht. Denn Bildung ohne Informationen bleibt leer, Informationen aber ohne Bildung verharren im Unbestimmten. Bildungspolitisch kommt es dehalb darauf an, den Blick auf den Unterschied zwischen Wesentlichem und Wesentlichem und Unwesentlichem zu lenken. Dem stetig wachsenden Informationsfluß, von dem die Einzelnen profitieren, muß eine zunehmende Integrationskraft der Aufnahmekapazität korrespondieren, wenn Autonomie des Urteilsvermögens erhalten bleiben soll.

Grundwissen ist alles, was dazu beiträgt, Bildung einen Mittelpunkt zu geben und so Informationsaufnahme und Informationsverarbeitung in ein produktives Gleichgewicht zu bringen. Es beschreibt den paradigmatischen Horizont von Welterfahrung und Weltsicht, innerhalb dessen alle Lernvorgänge ihren Stellenwert bekommen. Insofern verfügt jedes Subjekt über sein spezifisches Grundwissen, mit dessen Hilfe es Wirkliches auslegt. Erziehung und Bildung sind immer in einem Grundwissen orientierend integriert, das mehr oder weniger bewußt und reflektiert ist. Bildungspolitisch kommt es darauf an, das Reflexionsniveau des jeweiligen Grundwissens so zu steigern, daß die Argumentationsbasis vergrößert wird.

Die Funktion des Grundwissens gleicht der einer Lernfolie, die es erlaubt, einmal die Informationsaufnahme bewertend zu steuern, als auch die Informationsverarbeitung kreativ zu gestalten. Eine paradigmatische Lernfolie ermöglicht es gleicherweise, Texte sich sinnvoll anzueignen und Interpretationen zweckgerichtet zu entwickeln und damit auch der Erweiterung und Verbesserung der Wissensgrundlage selbst zu dienen, formt also den Rahmen, innerhalb dessen Weiterlernen zu einem Lernen des Lernens werden kann. Bildungspolitisch besteht die Aufgabe, die paradigmatische Lerngrundlage zum Selbstlernen zu befähigen.

Grundwissen in der Funktion einer paradigmatischen Grundlage für selbstreflektiertes Lernen ist Orientierungswissen in je seiner Umwelt und degeneriert zum Spezialwissen in einer Gesellschaft, in der die Verhältnisse immer komplizierter und unübersichtlicher werden. Orientierungswissen das in der unvermeidlichen Spezialisierung sich den Blick für das Ganze und die eigenen Grenzen offen hält, ist Allgemeinwissen, das je besonderes Spezialwissen bewußt in einen grundsätzlichen Allgemeinzusammenhang zu setzen vermag.. Allgemeine Orientierung ist die Fähigkeit, in der eigenen Welt die vielen anderen Welten mitdenken zu können.Bildungspolitisch gilt es in diesem Zusammenhang, im Besonderen das Allgemeine nicht zu vergessen, indem imbedingten Weiterfragen die letzten unbedingten Fragen nicht unterdrückt werden.

Allgemeinwissen verkörpert sich in Allgemeinbildung nicht nur in dem vordergründigen Sinn von Grundkenntnissen des praktischen Lebens oder den Standardantworten über letzte Positionen und geläufige Gesamtmeinungen, sondern in dem viel umfassenderen eines Seinsbewußtseins, das weiß, was es weiß und was es nicht weiß. Dieses wissende Nichtwissen des Sokrates ist steigerungsfähig, indem die Trennlinie zwischen dem, was man weiß, und was man nicht weiß, immer genauer bestimmt wird. Bildungspolitisch gilt es deshalb allem voran die Subjekte zu sich selbst zu bringen, indem diese die Grundeinsicht des wissenden Nichtwissens zu einer Grundhaltung so verinnerlichen, daß sie sich ihrer Endlichkeit als Vernunftwesen in jeder gesellschaftlichen Lage bewußt bleiben können.

Allgemeinbildung als wissendes Nichtwissen ist somit Vernunftbildung als Stärkung von Urteilskraft im Sinne eines philosophischen Grundwissens als Endlichkeitsbewußtsein. Philosophisch gebildet ist in diesem Sinn, wer in grundsätzlichen Diskursen zu unbedingten Prämissen kritische Distanz wahren und in Einzelgessprächen um seine Kompetenz weiß und Sachlichkeit zu wahren vermag. Vernunftbildung als Stärkung von Urteilskraft ist Objektivitätskompeten und Charakterbildung gleicherweise, insofern aus der Distanz zur Sache Bescheidenheit folgt und aus der Bescheidenheit die permanente Anforderung. Bildungspolitisch gilt es deshalb, das Ideal des mündigen Bürgers nicht nur abstrakt in den Raum zu stellen, sondern inhaltlich zu präzisieren und vorzuleben, anstatt es heimlich irrationalen Impulsen und falschen Idolen zu opfern.

Allgemeinbildunga ls Vernunftbildung folgt reflexiv einem philosophischen Grundwissen, , das es erlaubt, a) empirische Forschung, b) praktische Orientierung, c) intersubjektive Klärung, d) persönliche Besinnung und e) unbedingte Metareflexion so auseinanderzuhalten, daß deren einzelne Potentiale zur Entfaltung kommen und bedingt genutzt werden können, ohne das Ganze aus den Augen zu verlieren. Philosophisches Grundwissen ist der Kanon der Urteilskraft, insofern es einem jeden eine grundsätzlich begründbare eigene Meinung ermöglicht. Bildungspolitisch kommt es darauf an, ein philosophisches Grundwissen zu finden, zu wollen und statt Religion in das Zentrum organisierter Bildungsbemühungen zu rücken. Denn um wahrhaft religiös zu sein, bedarf es eines philosophischen Grundwissens. Umgekhrt ermöglicht das philosophische Grundwissen einen toleranten Umgang unter den Religionen, weil es sich selbst nicht mit Religion verwechselt


Besonderes

Zu den sogenannten inhaltlichen Schlüsselkompetenzen eines philosophischen Grundwissens in der Funktion von Orientierungswissen für Bildung überhaupt im Wissensszeitalter gehören (neben den jeweiligen theoretischen und praktischen Grundfertigkeiten des Alltags) a) Beherrschung der wissenschaftlichen Methode, b) Grundverständnis der historischen Gegenwartssituation, c) Wissen um die Spielregeln des Friedens und Voraussetzungen einer argumentativen Verständigung, d) Sensibilität für Wertgehalte und Niveauunterschiede der eigenen geistigen Bildungsherkunft und schließlich e) grundsätzliche Kenntnis einer philosophischen Logik, die Wissen und Nichtwissen systematisch zu trennen erlaubt. Bildungspolitisch gilt es, die Inhalte organisierter Bildungsplanung leitbildgerecht streng daran zu orientieren.

Zur klassische Bildung als Kompendium eines philosophischen Grundwissens und Gewähr für Schlüsselkompetenzen gehören deshalb neben Frendsprachenkenntnis und Mathematik a) ein Überblick über die großen wissenschaftlichen Leistungen in der Geschichte und Einblick in deren Entwicklungsdynamik, b) Verständnis der gegenwärtigen politischen Grundsituation auf dem Hintergrund ihres Gewordenseins und ihrer verantwortbaren Möglichkeiten, c) eine verantwortlicheVerfassungs-, Friedens- und Argumentationsstrategie als normatives Grundwissen, d) Zugang zu den geistigen Gipfelpunkten und einflußreichen Hauptströmungen der Menschheitskultur und schließlich e) grundsätzliche Klarheit über das, was Wirklichkeit für uns bedeuten kann. Klassische Bildung ist überzeitlich und nicht unbedingt an eine ganz bestimmte Kulturdration ursprungshaft gebunden. Bildungspolitisch kommt es darauf an, die Universalität des Bildungsideals gegen alle Traditionalisierung, Regionalisierung und Konfessionalisierung grundsätzlich durchzusetzen.

Weil klassische Bildung etwas so Grundlegendes ist, das sich in keiner bestimmten Situation adäqat spiegelt, muß jeder inhaltliche Bildungskanon, der keine Pseudobildung produzieren will, den Kontext beachten und mitreflektieren, in dem er verfaßt ist, sowie den Zweck, dem er dient. Einen für sich intersubjektiv verbindlichen inhaltlichen Bildungskanon, der den Anspruch auf Vollständigkeit erfüllt, kann es deshalb in den Geschichts-, Kultur- und Geisteswissenschaften niemals geben. In den Naturwissenschaften und Techniken handelt es sich um Lehrbücher zur Beherrschung bestimmten Fachwissens, nicht um Allgemeinbildung und in der Philosophie um die allgemeinste Darstellung des Wirklichkeitsbegriffs und seiner geschichtlichen Genesis. Bildungspolitisch ist deshalb darauf zu achten, den organisierten Bildungsbetrieb in Orientierung an regulativen Ideen (Kant) vor Rückfall in einen Traditionalismus scholastischer Autoritäten und pseudolegitimierter Stoffhuberei zu bewahren.

Weil es weder als Allgemeinbildung überhaupt noch als wünschenwertes Allgemeinildungsprogramm einen intersubjektiv gültigen Bildungskanon legitimerweise gibt, sind alle schulischen Bildungscurricula in der Funktion von Allgemeinbildung zum Scheitern verurteilt. .Bildungscurricula haben sich auf spezielle Ausbildungsbereiche und Lerngegenstände zu beschränken. Der Allgemeinbildungsbereich lebt von der produktiven Grundspannung zwischen besonderer Information und allgemeiner Regulation zu je seiner Zeit, die eine Bildungsvermittlung aushalten können muß, um lebendig zu bleiben. Das heißt nicht, daß nicht auch allgemeinbildend systematisch und übersichtlich vorgegangen werden muß. Aber es heißt, daß Systematik und Übersicht nie endgültig an einen angeblich vollständigen Lernstoff gebunden werden kann, wenn sie nicht trügerisch werden will. Bildungspolitisch bedeutet das, daß drohender Verschulung Einhalt gewährt werden muß, indem Freiräum für "allgemeinbildende" Reflexions- und Verarbeitungsprozesse bereitgestellt werden. Denn allgemeinbildend sind Curricule grundsätzlich nur Mittel zum Zweck, nie Selbstzweck.

Schulen und Universitäten müssen deswegen grundsätzlich zwischen spezial- und allgemeinbildenden Funktionen ihrer Unterrichtsfächer unterscheiden. Methodik und Didaktik spezialbildender Fächer können nicht auf allgemeinbildende Fächer übertragen werden und umgekehrt. Statt dessen stehen spezial- und allgemeinbildende Fächer in einem kompensatorischen Wechselverhältnis: In den allgemeinbildenden "Reflexionsfächern" wird verarbeitet, was in den spezialbildenden Lernfächern gundsätzlich unbegriffen bleiben muß, und in den spezialbildenden "Lernfächern" wird aufgearbeitet, was die allgemeinbildenden Reflexionsfächer detailmäßig überfordert. Bildungspolitisch folgt daraus, daß von Grund auf jeder Bildungsgang grundsätzlich auf zwei Schultern zu stehen hat: Auf der Vermittlung von Fachwissen einerseits und von Allgemeinwissen andererseits. Die Konsequenzen einer Kontiuität von Lehrperson und Lehrinhalten sind im allgemeinbildenden Bereich folgewirksamer denn im spezialbildenden.

Ein schulisches Reflexionsfach, das die Lernprozesse einer Bildungsanstalt (Ob Schule oder Universität) inhaltlich zu integrieren vermag, indem es erfolgreich Allgemeinbildung stiftet, kann an keinen festen Lehrplan gebunden werden und muß jederzeit aus aktuellen Anlässen heraus fetgelegte Vorgaben überschreiten dürfen. Es wird a) Wirklichkeitswissen vermitteln, um grundsätzliche Urteilfähigkeit zu befördern, b) geschichtliches Bildungswissen lehren, um die aktuelle Gegenwartssituation grundsätzlich verständlich zu machen, c) Gelegenheit geben, sich mit aktuellen öffentlichen Problemen auseinanderzusetzen, um in die gegenwärtige Grundsituation einzuführen und theoretisch Gelerntes praktisch zu erproben, d) Leben, Transparenz und Mitbestimmung im Schulalltag kritisch begleiten, um soziales Lernen praktisch zu testen und zu befördern und e) sich für persönliche Probleme der Schüler öffnen, indem es ihnen ein Forum (in Arbeitgemeinschaften (?) usw) zur Verfügung stellt. Bildungspolitisch heißt das, daß die Reflexionsfächer im Schulalltag zwischen Schulleitung und Schulmitbestimmung eine selbständiges, inhaltlich vermittelndes, bisher beispielloses, Gewicht bekommen müssen.

Reflexionfächer versichern sich ihre Allgemeinbildungsobjektivität angesichts der Gefahr, zu Laberfächern zu degenerieren, indem sie Probleme bis zu dem erkennbaren Punkt ausdiskutieren lassen, an dem die nachweisbare Konsensfähigkeit aufhört und die Notwendigkeit, das eigene Urteil individuell verantworten zu müssen, unvermeidlich beginnt. Indem die Praxis eingeübt wird, das Konsensfähige erschöpfend zu errörtern, bevor die eigene subjektive Meinung wertend einsetzt, zugleich auch das eigene Urteil und Engagement zu ermuntern, wenn erkennbar kein Konsens mehr möglich ist, sind die Reflexionsfächer an der Schule die exemplarische Erziehungsinstanz für eine Altersstufe, auf der Individuen lernen müssen, das eigen Gewissen selbst zu verantworten. Bildungspolitisch heißt das, daß ein Lernparadigma, das den Wissensstoff lediglich in "richtig" und "falsch" klassifiziert, in den Reflexionsfächern ersetzt werden muß durch ein Prinzip, das zur Wahrheitfindung Fehler zuläßt, aus Fehlern aber lernen will.,

Schulische Reflexionsfächer (ob Schule oder Universität) sind insofern heute neben der Familie die profesionelle gesellschaftliche Erziehungsletztinstanz par excellenc, weil nirgendwo sonst noch heute professionelle Erziehung stattfindet (beiseitegelassen einmal die großen indirekten Erziehungsinstitutionen für jedermann, wie Straßenverkehr, Sport, Marktverhalten usw.). Weder die zunehmend überforderten Eltern, noch die kaum kontrollierbaren und zudem freiwilligen Medien, noch die leicht anfällige Binnenmoral von Altersgruppen kann heute das generell leisten, was an vernünftiger Orientierungsleistung von den Reflexionsfächern professionell zu fordern wäre. Bildungspolitisch folgt daraus, bildungsorganisatorisch inhaltlichen Lernprozessen der Vorrang vor formalen organisatorischen Fragen gebührt. Die Qualität eines Bildungswesen hängt weniger von seinen organisatorischen Strukturen, denn von seinem inhaltlichen Integrations- und Mortivationspotential ab. Wir brauchen weniger formale organisatorische Schul- und Universitätsexperimente, denn eine zweite inhaltliche Humboldtsche Bildungsrevolutiuon.

Unterrichtende der Reflexionsfächer (ob Schule oder Universität) unterscheiden sich notwendig von von anderen Lehrkräften durch die geforderte Authentizität und Vorbildfunktion im Umgang mit dem Unbedingten, für das sie selbst haften. Erfolgreiche Vermittlung von Reflexionswissen ist im bestimmten Unterschied zur Vermittlung von bedingtem Sachwissen konstitutiv an die Glaubwürdigkeit der Botschaft und ihres Überbringers gebunden. Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit ist da nämlich nicht nur vor den Studenten/Schülern, sondern auch vor Eltern und Kollegen gefordert. Damit sind unvermeidlich Konflikte mit Universitäts/Schulleitung und Universitäts/Schulestablishment vorprogrammiert, die bei konstruktiver Lösung eine Universität/Schule lebendig erhalten können. Bildungspolitisch legt sich deswegen zwingend nahe, daß das Beamtenwesen, wenn schon nicht für alle professionellen Bildungsfunktionen, so doch für Vertreter der Reflexionsfächer ungeeignet ist: Beamtentum und Verantwortung vor dem Unbedingten ist logischerweise nicht miteinander vereinbar,

In dem Maß, wie die Allgemeinbildungsfunktion der Reflexionsfächer ernst genommen wird, wird universitäre/schulische Bildung zur politischen Bildung im Rahmen einer inneruniversitären/schulischen Demokratie, die neben dem Fachunterricht exemplarisch Bürgertugenden einübt. Auf diese Weise kann das herkömmlich wechselseitige Sich-Tolerieren oder gar Gegeneinander von Professoren, Lehrern, Elternund Studenten/Schülern in der inneruniversitären/schulischen Selbstverwaltung zu einem verantworlichen Miteinander sich kehren, indem gleicherweise universitäre/schulische Verwaltungsprobleme als auch soziales Lernen kooperativ angegangen werden. Indem die Reflexionsfächer sowohl Studenten/Schüler und Eltern zur Selbstbeteiligung motivieren als auch Universitäts/Schulverwaltungen zur Selbstkontrolle, übernehmen sie in einer Bildungsanstalt die Funktion, die in einer funktionierenden freiheitlichen Gesellschaft die Öffentlichkeit hat. Bildungspolitisch folgt daraus, daß viel größeres Gewicht, als bisher, auf das soziale Lernen in Bildungsanstalten gelegt werden muß, d.h. auf die inneruniversitäre/schulische Demokratie und die Bedingungen ihres Funktionierens.

Gemessen an dem, worauf es heute in Bildung und Erziehung ankommt, ist der herkömmliche Schwerpunkte, den viele Universitäts- und die meisten Schulbehörden bis heute auf Methodik und Didaktik legen, überholt. Das Ideal des programmierten Lernens, das immer noch die gegenwärtigen pädagogischen Ausbilder leitet, läßt keinen Raum für die eigentlichen inhaltlchen Voraussetzungen, die seit je her Zeiten echte Lernprozesse in Gang gesetzt haben. Zu allen Zeiten waren es nämlich die Inhalte, nicht die Verfahrenstechniken, die folgewirksam Schule gemacht und die geistige Selbstbehauptung von Kulturen gesichert haben. Bildungspolitisch heißt das, daß mit höchster Aufmerksamkeit die Eigendynamik von Verselbständigungsprozessen in der wissenschaftlichen Pädagogik verfolgt und eingedämmt werden muß. Angesichts der unverszichtbarkeit von Inhalten sind pädagogische Lehrstühle eigentlich überflüssig. Ein Pädagoge ist nicht, wer "Pädagogik" studiert hat, sondern wer erfolgreich Lernende erreicht.

Daran gemessen, worauf es heute in Bildung und Erziehung ankommt, ist deshalb auch das Gewicht, das im Deutschland der letzten Jahrzehnte die Kulturpolitik auf Universitäts/Schulorganisation legte, nutzloses Palaver und verschwendete Energie. Man agierte buchstäblich im luftleeren Raum, weil es weniger oder gar nicht darauf ankommt, in welcher Weise institutionell das Universitäts/Schulwesen bürokratisch gegliedert ist, sondern vielmehr darauf, in welcher Weise Professoren/Lehrer motiviert, Studenten/Schüler gefördert Eltern ernst genommen werde und am Ende das Lernen selbst einen Sinn vermittelt und deshalb, d.h. nur deshalb auch Spaß machen kann. Dazu bedarf es erstrangig einer Grundorientierung, zweitrangig der Freiheit, für Bildungsinhalte die Verantwortung in eigener Regie übernehmen zu können. Bildungspolitisch bedeutet das Bürokratieabbau, und der ausufernden selbständigen Etablierung von neuen Forschungsgebieten und Unterrichtsfächern ganz kritisch zu Leibe zu rücken: Es muß nicht für jede wissenschaftliche Frage und für jedes sachliche Spezialproblem ein selbständiges Lernfach, ein selbständiges Lehrangebot oder gar eine selbständige Professur eingerichtet zu werden.


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Letzte Änderung dieser Seite: 02.05.2003