Max Weber und Wirklichkeit
11.7.01
1. Problemstellung

Über Max Weber schreibt, (spät bekehrt), Wilhelm Hennis: “Wenn man der These Lawrence Scaffs zu folgen bereit ist, wonach der, dem es gelingt, seine Interpretation Webers durchzusetzen, auch den weiteren Weg der Sozialwissenschaft bestimmen könnte, so handelt es sich beim Verständnis Webers um eine nicht nur innerwissenschaftlich aufregende Frage. Nach der Erledigung des „wissenschaftlichen Sozialismus“ scheint Webers Werk den einzigen wissenschaftlichen Orientierungspunkt über die Art von der Welt, in die wir „hineingestellt“ sind, anzubieten.“ („Ein Kampf um Weber“, FAZ, 11.4.95). Was steckt hinter dieser erstaunlichen Wertschätzung eines anerkannt selbstkritischen Politologen?


Auf die rätselhafte Tiefgründigkeit von Person und Werk des 1920 verstorbenen Max Weber hat die spätestens seit den siebziger Jahren ausufernde Sekundärliteratur noch keine Antwort gefunden. Nachdem Karl Jaspers schon 1920 Weber gegen Rickert zum existenziellen Philosophen erkor, dann Talcott Parsons ihn in den USA als angeblichen Ahnherrn einer strukturell-funktionalen Totalsoziologie populär machte, geht im Nachkriegsdeutschland der „Kampf um Weber“ in Nachwirkungen des sogenannten Positivismusstreites (Adorno kontra Popper) und der Studentenrevolution von 1968 heute noch munter weiter. Zu viele reklamierten und reklamieren ihn für sich: René König und seine Kölner Schule für die positivistische Soziologie Durkheims, Eduard Baumgarten für den amerikanischen Pragmatismus, Hans Albert für Poppers „Kritischen Rationalismus“ , Ralf Dahrendorf , Wolfgang J. Mommsen für den politischen Liberalismus, Niklas Luhmann für seine Systemtheorie und selbst Jürgen Habermas mit Wolfgang Schluchter für vorwiegend Rationalisierungsanalyse (als Vorläufer einer späten „Kritischen Theorie“). Dagegen gibt es auch natürlich noch die unversöhnlichen Gegner, für die er nichts als ein erkenntnistheoretisch befangener Neukantianer, weltanschaulicher Relativist, Positivist, Dezisionist, Agnostiker, Chaot, machtorientierter Imperialist ja Präfaschist ist.


2. Werk

Max Weber war studierter Jurist, bekam 1894 einen Lehrstuhl für Nationalökonomie in Freiburg, folgte 1897 einem Ruf nach Heidelberg, um alsbald einer Nervenkrankheit wegen bis zum Ende des Krieges als Emeritus zu privatisieren. Bis zum überraschenden Tod im Jahr 1920 enstanden der Reihe nach originäre Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Methodologie der Geschichts- und Sozialwissenschaften, zur Religionssoziologie und deutschen Politik. Sein nachgelassener Torso „Wirtschaft und Gesellschaft“ hat nichts Seinesgleichen an Weite und Präzision. Biographisch gibt es keinen erkennbaren Bruch im Denken, lediglich Lernfortschritte. Indem er explizit „Wirklichkeitswissenschaft“ (Wissenschaftslehre, 2.Aufl. S. 170) betreiben wollte, bekannte er sich philosophisch zur Terminologie der ihm befreundeten (badischen) Neukantianer Windelband und Rickert, ohne dieser zu verfallen. Sein Forschungsinteresse war universal, methodologisch ging es ihm um Unparteilichkeit, sozialpolitisch um kritische Verantworung.

Weber wollte nur Wissenschaftler, kein Philosoph sein und sah sich dabei von den geistes- und sozialwissenschaftlichen methodologischen Kontroversen nach Hegel und dann Marx , Nietzsche , Comte und Dilthey herausgefordert, „Selbstverständlichkeiten“ der Allgemeingültigkeit zu klären. Wie er es tat, hat ihm dann von Karl Jaspers den Titel eines „Galilei der Geisteswissenschaften“ eingetragen . Was ihm dabei „Wirklichkeit“ bedeutet, muß implizit als Grenze erschlossen werden, weil es nirgendwo thematisiert wird. Dieses Wirklichkeitsverständnis spricht die Sprache der neukantianischen Wertphilosphie, entspricht aber inhaltlich keiner der zeitgenössischen „Erkenntnistheorien“, auch nicht der Nietzsches, wie vielfach geargwöhnt. Webers unfassliche Belesenheit ermöglichte ihm, mit einem originären Kantverständnis überall kompetent Distanz zu wahren. Paul Honigsheim erzählt, Weber hätte den (realistischen) Neukantianer Alois Riehl einmal als den authentischsten „Kantianer“ bezeichnet.

3. „Wertfreie“ Wissenschaft

Webers Wirklichkeitsverständnis erschließt sich indirekt aus dem mit seinem Namen verbundenen Begriff „Wertfreie Wissenschaft“. Dabei geht es ihm in dem epochemachenden Aufsatz von 1904 nur um die Objektivität sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, das Wort „wertfrei“ kommt gar nicht vor. In seinem Gutachten im nachfolgenden „Werturteilsstreit“ von 1914 und dessen Veröffentlichung von 1917 geht es bei „wertfrei“ dann nur noch um die Abwehr von Miverstänndnissen. Konkret fordert Weber für intersubjektiv evidente Objektivität die Akzeptanz der logischen Kluft zwischen sogenannten Seins- und Sollensurteilen und daraus abgeleitet, a) die konditionale Behandlung von Werturteilen im Namen von Wissenschaft und beamteten Wissenschaftslehrern („Kathedepropheten“), b) das Zugeständnis, daß sozialen Realitästbezügen stets Wertbeziehungen vorausgehen, c) daß wissenschaftliche Begriffe deshalb die Wirklichkeit nicht widerspiegeln, sondern nur als „Idealtypen“ einer vorgängigen heuristischen Operationalisierung, d) daß letzte unbedingte „Werte“ sich untereinander in einem Kollisionszustand befinden (Kampf der Götter!) ) demgegenüber einer intellektuell redlichen Wissenschaft nur e) die Möglichkeit der Wertdiskussion bleibt, für die es f) prinzipiell keinen Abschluß gibt und deren g) Planung und Problemorientierung nicht mehr ausschließlich Sache einer empirischen Wissenschaft sein kann.


Der andauernde Streit um die Auslegung dieser Kriterien, dem sich ua. auch der gegenwärtige Tiefstand der Sozialwissenschaften verdankt, versteht sich nur als das Resultat unterschiedlicher Wirklichkeitsverständnisse, die von den jeweiligen Interpreten eingebracht werden. Damit sah sich bereits Weber selbst konfrontiert: Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie verläßt er, weil er es satt sei, daß gegen den Paragraph 1, das Postulat der Unparteilichkeit, ständig verstoßen werde. Die Werturteilsdebatte des Vereins für Sozialpolitik 1914 quittiert er wütend mit der Bemerkung, man verstünde ihn ja doch nicht. In der Weimarer Zeit gelten Verfechter der Werturteilsfreiheit dann gewöhnlich als Relativisten und Positivisten, was weitgehend auf das Konto des Freundes Werner Sombart geht, der in der Rolle des Testamentvollstreckers „wertfreie Wissenschaft“ als einen spannungslosen Markenartikel im Sinne von Voraussetzungslosigkeit unter die Leute bringt. Dagegen will der einflußreiche Staatsrechtler Carl Schmitt wissenschaftlich „wertfrei“ ein grundsätzliches Pr imat des Politischen über das Recht begründen, der Soziologe Karl Mannheim einen „wertfreien“ Standpunkt für Ideologienzurechnung gewinnen. Angesichts solch verwirrenden Mißverständnisse blieb der Widerstand permanent. Der Bruder Alfred und sein Heidelberger Institut verdächtigen Max des Agnostizismus, Konservative, Wertphilosophen und Marxisten laufen ohnnehin Sturm. Schließlich fordern die Nationalsozialisten autoritativ eine „wertende Wissenschaft“, und die meisten Webergegner fügen sich. .Weil das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft auch heute noch ungeklärt ist, spannt ein jeder Interpret, ob pro oder contra, immer noch sein Bild der „Wertfreiheit“ vor den eigenen Wirklichkeitskarren.


4. Implizite Wirklichkeit

Indirekt läßt sich Webers Wirklichkeitsverständnis fünf Ursprüngen möglicher wissenschaftlichicher Evidenz zuschreiben: a) der Intersubjektivität, von „wertfreier“ Wissenschaft konstruktiv erstellt, b) der empirisch gegeben Welt, von ihr bearbeitet, c) der Geschichtlichkeit, die intersubjektive Evidenz stets neu zu vergewissern zwingt, d) der Subjektivität, die ihre Wertungen selbst zu verantworten hat und e) dem Bereich des Ganzen, auf den Seinsbilder und Religionen sich beziehen. Für dieses Letzte verweist Weber neben dem Verweis auf den „Kampf der Götter“ in der Entscheidungsfrage auch noch auf eine denkbare theoretische Orientierungspersspektive: „Philosophische Disziplinen können darüber hinaus mit ihren Denkmitteln den „Sinn“ der Wertungen, also ihre letzte sinnhafte Struktur und ihre sinnhaften Konsequenzen ermitteln, ihnen also den „Ort“ innerhalb der Gesamtheit der überhaupt möglichen letzten“ Werte anweisen und und ihre sinnhaften Geltungssphären abgrenzen“ (S.O. S..494).


Weber drückt damit im Medium der Wertterminologie aus, was Transzendentalphilosophie grundsätzlich zum Wirklichen sagen kann: „Idealtypische“ Begriffsklärung nicht nur im heuristischen Spezialinteresse, (so wie Webers „reine“ Typen der Herrschaft, des Wirtschaftens usw), sondern auch im bedingten Letztbezug. Niemand hat diesen Hintergrund bis heute geortet. Lediglich die Spätphilosophie des „Umgreifenden“ von Karl Jaspers knüpft direkt daran an, verallgemeinert aber vorgängig die logische Kluft zur Subjekt-Objekt-Spaltung. Die Hochkonjunktur der „Differenz“ in der französischen Postmoderne ignoriert Weber, hängt am Tropf von Heidegger. Nirgendwo ist Webers Einsicht in die Unhintergehbarkeit von Wirklichkeit als notwendige Konsequenz der logischen Kluft ernsthaft aufgenommen.

5. Resümee

Max Weber ist der erkennbar Erste, der implizit Wirklichkeit (für Kant noch eine Kategorie) als unhintergehbar begriffen hat, um nach Kriterien intersubjektiver Evidenz dafür zu suchen. Positionelle„Ismen“ haben dabei ausgedient. Praktisch entspricht dem das Postulat der Verantwortungsethik: Insofern es theoretisch für die unausschöpfliche Wirklichkeit kein Surrogat mehr gibt, gibt es auch praktisch keines mehr für die unvertretbare individuelle Letztverantwortung. Max Weber zieht hier (in „Politik als Beruf“) nur die zwingende Folgerung aus Kants, (für Weber immer verbindlichen) Kategorischen Imperativ, wenn dessen situationsunabhängiger formaler Anspruch ganz ernst genommen wird.

Wenn Wirklichkeit hier transzendent bleibt, radikalisiert also Weber lediglich Kants Transzendentalphilosophie im Medium des Nachdenkens über Wissenschaft. Das ist alles, aber doch ein Schritt aus dem Dunkel. Seitdem Dieter Henrich gegen die einflußreiche neukantianische Version Alexander Scheltings 1952 auf einen originäreren Zugang Webers zu Kant aufmerksam machte, steht bis heute dieser Nachweis trotz einer inflationären Deutungsflut immer noch aus. Mit der Frage nach der Wirklichkeit haben wir hier den Zugang genannt, bei dessen Tragfähigkeit es sich erübrigt, mit Wilhelm Hennis („Max Webers Fragestellung“, 1987) noch einmal ganz neu anfangen zu müssen, um überhaupt erst die adäquate Fragestellung zu entwickeln.

 


home | Begriffssystem | Kommentare | e-mail | WIRKLICH-FORUM
Letzte Änderung dieser Seite: 24.02.2004