"In Wirklichkeit" und "in Wahrheit".

Auf die Frage, was etwas" ist", kann man eine Wirklichkeits- und eine Wahrheits- aber keine Seinsantwort geben. Eine Seinsantwort wäre der Begriff, der etwas Unverwechselbares festellt, die Wirklichkeitsantwort aber zielt auf die spezifische Differenz zu allem anderen Wirklichen auf der Begriffslandkarte von Wirklichkeit. Die Wahrheitsantwort erläutert die Bedeutungsaspekte, unter denen die Wirklichkeitsantwort kontrolliert werden kann.

Aber wie genau unterscheiden sich Wirklichkeits- und Wahrheitsdefinitionen?

Wirklichkeitsdefinitionen orten etwas Wirkliches auf der Begriffsbildlandkarte, Wahrheitsdefinitionen nennen die Bedeutungen, die eine Wirklichkeitsdefinition wahr machen.

Aber was heißt etwas wirklich, was etwas wahr machen?

Man kann nichts "wirklich" machen, man kann nur etwas als wirklich erkennen, wenn es einen einmaligen Platz auf der Begriffsbildlandkarte des Seins besitzt. Denn dieser Platz bezeichnet den unverwechselbaren Oberbegriff und die unverwechselbare spezifische Differenz zu anderem Wirklichen. "Wahrmachen" heißt dagegen die Bedingungen nennen, unter denen die Behauptung, etwas sei "in Wirklichkeit" dies oder jenes, auch stimmt.

Was unterscheidet noch einmal genau Wirklichkeits-, Wahrheits- und Seinsdefinitionen?

Überall wird etwas Wirkliches beim Namen genannt. Die Seinsdefinition nennt es als das, was es "ist", in seinem entsprechenden Begriff. Die Wirklichkeitsdefinition nennt es unter allem anderen Wirklichen, als was es einmalig etwas Wirkliches ist. Und die Wahrheitsdefinition nennt das, was es als Seins- und Wirklichkeitsdefinition auf der weiterführenden Bedeutungsebene "ist", so daß man weiß, was das Gesagte bedeutet.

Und wozu dienen uns diese drei unterschiedenen Definitionen?

Seinsdefinitionen sind Begriffe, mit deren Hilfe wir sagen können, auf was sich Worte intersubjektiv evident beziehen. . Wirklichkeitsdefinitionen sind Sätze, die uns sagen, was das begriffliche Sein nicht nur als identifiziertes Wirkliches, sondern auch unter allem Wirklichen einmalig als Wirklichkeitsmoment auf der Begriffslandkarte ist. Und Wahrheitsdefinitionen sind Seinsbedeutungen, die Seinsdefinitionen in ihrer Funktion als Wirklichkeitsdefinitionen bedeutungsmäßig erläutern.

Aber wozu in allen diesen Fällen überhaupt Definitionen?

Es ist schon wichtig, in Diskursen kurz und prägnant sagen zu können, was man mit etwas meint, wenn man es mit Worten unterstellt (Seinsdefinition) , was man im weitesten Sinn meint, wenn man es in der Sache unterstellt (Wirklichkeitsdefinition) und was man begründend meint, wenn man in der Sache auf Grundsätzliches zurückgreift (Wahrheitsdefinitionen).

Aber wie kann man zugleich allen drei Definitionen gerecht werden?

Indem man erstens Worten begrifflich gerecht wird, d.h. bei wichtigen Worten sagt, wie man sie versteht. Indem man zweitens Behauptungen definitorisch gerecht wird, dh. begründend sagt, wie man sie auf Wirkliches bezieht, und indem man drittens sich Zusatzfragen nach dem Gemeinten nicht entzieht, sondern stellt.

Kann man das auch einmal an einem Beispiel erläutern?

Nehmen wir das Wort "Freiheit". Das Wot wird von jedermann verstanden, aber umgangssprachlich höchst unterschiedlich, je nach Erfahrungs und Bildungshorizont, je nach Problemlage und Kommunikationszusammenhang, je nach Idealen und praktischen Zielsetzungen. Das sind die Schatten in Platons Höhlengleichni: Weil es sich nur um Worte handelt, noch nicht um die Sachen selbst, versteht jeder im Grunde etwas anderes, und damit man in einem Verständigungsprozeß nicht permanent aneinander vorbeiredet, bleibt nichts anderes übrig, als einen Moment innezuhalten und sich wechselseitig zuerst einmal darüber zu einigen, was man im Wortgebrauch gemeinsam als Wortbedeutung unterstellt.

Aber um ein Verständigung durch Wortdefinitionen zu erzielen braucht man doch noch keine letzten Definitionen?

Natürlich genügt für die meisten Zwecke eine kurzfristige Festlegung auf das, was alle Seiten vorläufig zunächst und unter bestimmten Bedingungen zum Zweck der Verständigung mit Worten verstanden wissen wollen. Aber dabei ist weder ausgemacht, ob diese Festlegungen für die einzelnen Gesprächsteilnehmer einen in sich begründeten Sinn haben, noch ob sie der Sache selbst tatsächlich gerecht werden.

Aber was heißt jetzt hier "der Sache selbst gerecht werden"?

Eben das, was Freiheit unabhängig von dem "ist", auf das man sich gerade aus irgend einem bestimmten Zweck voräufig geeinigt hat. Was die Freiheit "ist", wird ja nicht aus strategischen Zwecken abgeleitet oder in einem Kompromiß gemeinsam beschlossen, sondern muß von sich her so überzeugen, daß argumentative Zustimmung für jeden zwanglos möglich ist.

Aber wann interessiert überhaupt das, was Freiheit "ist"?

Wenn es um einen Wortgebrauch geht, der grundsätzlich allen gerecht werden soll, und nicht nur dem einen oder anderen bedingten Interesse. Dann kommt es darauf an, unterscheiden zu können, in welchem Sinn in diesem oder jenen Zusammenhang das Wort Freiheit verstanden werden soll. Das ist vor allem wichtig, wenn Freiheit direkt Thema ist.

Wie aber kann Freiheit direkt noch Thema außer in expliziten Definitionen sein?

In philosophischen Zusammenhängen. Man denke nur an das theologische Jahrtausendproblem des freien Willens vor Gott. Seit Augsutin stehen die Theologen vor der ungelösten Frage, ob es neben dem allmächtigen und allwissenden Gott auch noch eine selbständige Freiheit der endlichen Wesen geben darf. Bis heute noch scheiden sich an dieser Frage die Geister.

Und wie kann hier die Definitionsfrage weiterhelfen?

Indem im jeweiligen Kontext klargestellt wird, was jeweils mit dem Wort "Freiheit" gemeint ist. Eine solche Klarstellung kann viele Dispute als Scheinkontroversen entlarven. Sie ist aber eben nur dann möglich, wenn es für die Wortunterscheidungen unabhängige Kriterien gibt, die Freiheit sinngemäß variieren und nicht zugleich wiederum ein einem ursprünglichen Sinn selbst in Zweifel ziehen.

Der ursprüngliche Sinn muß also von seinen Teilbedeutungen frei gehalten werden können?

Um Teilbedeutungen richtig zu verstehen, müssen sie gedanklich ständig in Relation zu der umfassenderen einfachen Wortbedeutung stehen. Es ist eben nicht dasselbe, über Freiheit allgemein nur daher zu reden, so als ob es sich dabei lediglich um äußer Freiheit handle, oder nur um Willensfreiheit, um Kompetenz oder ein Können, um innere Freiheit, Wahlfreiheit usw. Alles dies sind besondere Aspekte des Wortes "Freiheit", aber eben höchst unterschiedliche.

Und um die Teilbedeutungen unterscheiden zu können, muß man die Hauptbedeutung kennen?

Hauptbedeutung meint hier das einfache, unpräzisierte Wort. Die Unsitte ist weit verbreitet, mit den einfachen Worten der Hauptbedeutungen etwas als gesagt zu unterstellen, was tatsächlich nur eine Nebenbedeutung davon ist. Der Rückgriff auf das einfache Wort suggeriert die Nebenbedeutungs als Hauptbedeutung, so wie wenn jemand allgemein von Freiheit spricht, im ernst dabei aber nur an die innere Freiheit als seelischen Zustand denkt.

Aber Freiheit ist doch etwas Bestimmtes!

Aber in einem sehr weiten Sinn, was eben unsere Definitionen zeigen können. Wenn z.B. heute führende Gehirnforscher, aber auch Genetiker, Apologenten der Künstlichen Intelligenz usw.so öffentlich wie lapidar erklären, ihre jeweilige Wissenschaft habe gezeigt, daß es keine Freiheit gebe, dann ist das nicht nur Wortschlamperei, sondern bewuße Irreführung und Desorientierung der Öffentlichkeit!

Wieso Desorientierung der Öffentlichkeit?

Würde die Behauptung in der undifferenzierten allgemeinen Wortwahl stimmen, dann dürfte es ja keine Kultur geben. Verantwortung wäre unmöglich, eine "freie Gesellschaft" wäre ein widersinniger Begriff, das ganze Rechtswesen eine Farce, politische Ieale wären Hirngespinste usw. Es muß sich also um Mißverständnisse der Wortwahl handeln.

Wie kommte es aber, daß viele führende Wissenschaftler sich trotzdem auch heute noch sich so ausdrücken?

Weil sie von den Philosophen in diesen Fragen bis heute allein gelassen worden sind, das ist die einfache Antwort. Die meisten Fachwissenschatler verwechseln immer noch ihren eigenen privilegieerten Wirklichkeitszugang mit dem Wirklichkeitszugang überhaupt. Sie maßen sich dann mehr oder weniger bewußt an, auch die Grundbegriffe der Wirklichkeit selbst auf der Basis ihrer eigenen Wissenschaft zu entwickeln und allgemein vorzuschreiben.

Und auf diesem Feld schafft die Begriffsbildlankarte endlich Ordnung?

Sie kann und wird Ordnung schaffen, wenn man sich erst einmal auf sie einläßt. Denn dann wird nicht nur klar, daß Wortbedeutungen definitionsbedürftig sind und Ad-hoc-Definitionen nicht das letzte Wort haben müssen, sondern auch, daß keine Fachwissenschaft für die Definitionsregelung überhaupt zuständig sein kann.

Die Philosophie ist zuständig, aber warum wurde das bisher nicht akzeptiert?

Die meisten haben es bisher vielleicht schon verbal akzeptiert, aber weil die Philosophenschulen bis heute immer noch zerstritten sind ode inzwischen aufgehört haben, überhaupt noch eindeutige Definitionen zu versuchen, weiß niemand so richtig mehr, an was er sich halten soll. Wenn Wissenschaftler heute sich auf Philosophie beziehen, ist es meist reiner Zufall, an welche sie dabei rgeraten sind. Und das entmutigt auf die Dauer, meist sind es inzwischen die ehrlichsten Wissenschaftler, die sich gar nicht mehr um Philosophie kümmern!

Wie kann nun der Gehirnforscher sich philosophisch über den Gebrauch von Freiheit grundsätzlich orientieren?

Zuerst sollten sie lernen, sich präzise auszudrücken. Freiheit ist nicht einfach Freiheit, sondern als etwas bestimmtes Wirkliches immer auch eine bestimmte Freiheit. Und um eine solche Bestimmtheit auszudrücken, bedarf es eines Begriffes (Seinsdefinition). Was aber diese bestimmte Freiheit ist, hängt davon ab, von was man "in Wahrheit" (Wahrheitsdefinition) spricht. Um das aber wiederum wissen zu können, muß man eine vorgängige Idee von dem haben, was Freiheit "in Wirklichkeit" sein soll.

Wie klären nun die drei Definitionen ganz genau das Wort "Freiheit?

Gesetzt den Fall, in einer Ad-hoc-Definition wird festgelegt, man wolle unter Freiheit "Willensfreiheit" verstehen, dann hilft auch diese Festlegung nicht weiter, wenn nunmehr jeder Diskussionsteilnehmer seinerseits unter Willensfreiheit etwas anderes versteht. Unsere Definitionen zeigen aber, was Willensfreiheit als Begriff in einem konsistenten Wortgebrauch impliziert (Seinsdefinition), was sie dabei "in Wahrheit" im bestimmten Unterschied ist (Wahrheitsdefinition) und was "in Wirklichkeit" als ein Moment von Freiheit überhaupt!

Bitte das Gesagte etwas konkreter!

Das Wort "Willensfreiheit" ist als Begriff von etwas Wirklichem eine subjektive Bedingung der Möglichkeit dafür, daß es Situationsfreiheit geben kann und als dieser Begriff konstitutiv für "Situationsfreiheit" neben den anderen Spiegelbedeutungen wie Reaktionsspontaneität, Belieben, Handlungsspielraum und zusammenfassend "Selbstentscheidung". Hier ist der zusätzliche Platz für Willensfreiheit auf der Begriffsbildlandkarte. "In Wahrheit" ist Willensfreiheit das, was ihre unverwechselbaren Bedeutungseigenschaften ausmachen, wenn derBegriff nicht selbstwiderssprüchjlich werden soll, nämlich Willensfähigkeit, Willenskompetenz, Willensbeherrschung, Beherrschbarkeitsantrieb und wiederum zusammenfassend: Willensgewolltheit."In Wirklichkeit" ist sie das, was sie in Wahrheit als Begriff auf der Begriffslandkarte einmalig ist, nämlich die notwendig zugehörige "innere Freiheit" von "Situationsfreiheit. Als innere Freiheit von Situationsfreiheit ist Willensfreiheit etwas unverwechslbares einmaliges Wirkliches auf seinem angewiesenen Platz.

Aber meinen hier Seinsdefinition und Wirklichkeitsdefinition nicht dasselb?.

Ja, insofern eine Wirklichkeitsdefinition immer die Seinsdefinition im Begriff voraussetzt und jede Seinsdefinition auf der Begriffsbildlankarte einen einmaligen Platz hat und deshalb im Gesamtzusammenhang definiert werden kann. Die Seinsdefinition ist auf einer geographischen Landkarte vergleichbar der Angabe des Ortes, die Wirklichkeitsdefinition der seiner Koordinaten und Lagebestimmungen im Ganzen der Karte.

Seinsbestimmung und Wirklichkeitsbestimmung sind dann aber doch identisch!

Wenn man davon ausgeht, daß es sich hier lediglich um einen Begriffsnamen handelt, dort aber um eine letztendliche Begriffsdefinition, dann stimmt das. Es gibt aber dabei eben doch den Unterschied, daß der Begriffsname lediglich eine unverwechselbare Identität zum Ausdruck bringt, die Wirklichkeitsdefinition deren unverwechselbaren Wirklichkeitszusammenhang.

Und dieser Wirklichkeitszusammenhang impliziert die ganzeWirklichkeit?

Der Begriff als Seinsdefinition ist wirklich, weil er etwas unverwechselbar Identisches in der Wirklichkeit meint. Die Wirklichkeitsdefinition ist wirklich, weil sie den unverwechselbar identischen Begriff als Teil der Wirklichkeit ganz präsise beim Namen nennt. Im ersten Fall kommt die Wirklichkeit im Besonderen zur Erscheinung, im zweiten Fall im Allgemeinen.

Und die Wahrheitsdefinition sagt, wie eine Seins- und Wirklichkeitsdefinition zu verstehen ist?

Das kann man so sagen. Die Wahrheitsdefinition liefert die Begründung dafür, daß eine Seins- bzw. Wirklichkeitsdefinition überhaupt auch in dem Sinn von intersubjektiver Gültigkeit wirklich ist.

Wenn Wahrheitsdefinitionen etwas Intersubjektives meinen, was dann die anderen?

Definitionen haben es grundsätzlich mit Intersubjektivität zu tun. Aber eben auch da müssen alle Wirklichkeitsbedeutungen abgedeckt werden, um der Idee einer Definition "in Wirklichkeit" gerecht zu werden.

Was heißt, eine Definition muß den Wirklichkeitsbedeutungen gerecht werden?

Eine Definition muß ihren eigenen Wahrheitsbedingungen genügen. Das heißt in unserem Fall, zu einer Definition, die allen Anforderungen genügt, gehört a) ein sprachlicher Ausdruck, der etwas in der Welt als ein Phänomen bezeichnet (Phänomenbezeichnung). Dann gehört b) eine konsensfähige Einigung darüber hinzu, was man mit dem Ausdruck in einer bestimmten Situation und einem bestimmten Kontext ereignishaft also gemeinsam zu verstehen hat (empirische Vorfestlegung). Subjektiv muß dieses gemeinsam Unterstellte d) in einer Seinsdefinition so zu einem Begriff werden, daß mit dem Gemeinten unverwechselbar eindeutige Bedeutungen verbunden werden. Intersubjektiv, wie gesagt, kommt es c) auf die Bestätigung der Richtigkeit der Festlegung an und alles zusammen soll eine Definition e) das ausdrücken, was das Definierte als etwas Wirkliches überhaupt und Moment von Wirklichkeit "ist" (Wirklichkeitsdefinition)

Was wäre nun beispielsweise die genaue Wirklichkeitsdefinition von Freiheit?

Freiheit ist "in Wirklichkeit" die Möglichkeit von Verantwortung. Die Definition ergibt sich so: Einerseits ist Freiheit eine konstitutive Seinsbedeutung von Verantwortung, denn ohne Freiheit gibt es keine Verantwortung. Andererseits ist sie die Spiegelung von Möglichkeit in der Verantwortung, denn daß Verantwortung überhaupt möglich ist, ist das Spezifikum von Freiheit. Verantwortung ist also der Überbegriff (genus proximum) und die Möglichkeit ist der genaue Differenzbegriff (differentia specifica). Die entsprechende Definition mit diesen beiden Bestandteilen lautet also: Freiheit ist die Möglichkeit von Verantwortung.

Und umgekehrt ist die Möglichkeit von Verantwortung Freiheit?

Natürlich. Wir können das Definitionsverhältnis umkehren und können aus den beiden Definitionsprämissen analytisch den Sinn ausmachen, den wir mit "Freiheit" namentlich bezeichnen, und bei dem wir nie ganz sicher sind, ob es nicht noch bessere Namen gibt. Aber durch welchen Namen wollten wir Freiheit in eben dem Sinn, Möglichkeit von Verantwortung zu sein, ersetzen?

Was bedeutet hier "der analytische Sinn" von Freiheit?

Der analytische Sinn von Freiheit meint, daß "Freiheit" namentlich, durch Seinsbedeutungen (Wahrheitsdefinitionen) präzisiert, genau das sprachlich zum Ausdruck bringen muß, was mit den beiden Prämissen vorausgesetzt ist. Denn mit diesem analytischen Stellenwert ist etwas Wirkliches gemeint, das der Wirklichkeit selbst entspäche, wenn sie nur unter diesen Begriffen an dieser Stelle der Begriffslandkarte als etwas bestimmtes Wirkliches in Erscheinung treten würde.

Freiheit soll dann also die ganze Wirklichkeit selbst meinen können?

Dann, wenn ihre beiden Prämissen unterstellten, die ganze Wirklichkeit zu definieren, nur dann. Wenn also die ganze Wirklichkeit nichts anderes als mögliche Verantwortung wäre, dann gäbe es überhaupt nur Freiheit. Und umgekehrt, wenn die ganze Wirklichkeit nur Freiheit wäre, dann wäre logisch gefolgert alles nur mögliche Verantwortung.

Ein Test dafür, ob ein Namen richtig gefunden ist, wäre also die Wirklichkeitsverallgemeinerung?

Es handelt sich hier in der Tat um die Testbedingung der Begriffsbildlandkarte par excellence. Man muß sich wechselseitig die Frage stellen, ob ein Begriffsnamen an eben dieser Stelle und keiner anderen die ganze Wirklichkeit meinen kann, oder umgekehrt, ob die Prämissen einer Stellendefinition dasselbe leisten, wenn man ihrem Sinn nachgeht.

Und das gilt ausnahmslos für alle Seinsbegriffe und alle Begriffsbildebenen?

Für alle. Die theoretische Realität ist z.B. Objektivität. Wenn die ganze Wirklichkeit nichts als theoretische Realität wäre, dann hätten wir es nur noch mit Objektivität zu tun und umgekehrt. Die historische Realität ist Faktizität. Wenn die ganze Wirklichkeit nichts als historische Realität wäre, hätten wir es nur noch mit Fatizität zu tun usw.

Wie kann man das Gesagte aber auf Wirklichkeit selbst übertragen, die ja keine Prämissen hat?

Ganz einfach: Wenn alles unhinterfragbar wäre, dann wäre alles Wirklichkeit.

Aber das wäre doch nur ein Möglichkeit, keine Definitionsbestimmung mehr!

Genau, aber eine Definitionsbestimmung gibt es ja nicht mehr bei etwas, was als unhinterfragbar festgestellt wird: Wir haben es hier ja noch nicht mit etwas Wirklichem entsprechend einer Seinsbedeutung zu tun, sondern mit dem, was beiden vorausgeht.Wir müssen ganz einfach hinnehmen, daß wir bei "Wirklichkeit" defintionsmäßig uns an dem Punkt befinden, an dem alle Zuordnungsversuche in Selbstzuordnnungen enden, weil es noch keine Zuordnungskoordinaten gibt.

Und wie wäre das mit "Welt" etwa auf der zweiten Ebene, gibt es dort Zuordnungskoordinaten?

Die Zuordnungskoordinaten funktionieren eigentlich erst ab der dritten Ebene, weil zuerst von da an nicht mehr von Wirklichkeitsbedeutungen, sondern von Seinsbestimmungen die Rede ist. Im Falle von "Welt" können wir nur sagen, daß wenn die ganze Wirklichkeit nichts als Welt wäre, sie als nichts anderes zu gelten hätte, denn als eine ihrer konstitutiven Bedeutungen. Wäre alles Welt, dann wäre alles nur eine notwendige Wirklichkeitsbedeutung.

Aber was wäre der Sinn einer notwendigen Wirklichkeitsbedeutung?

Eigentlich nur der, daß behauptet wird, die ganze Wirklichkeit sei eine Wirklichkeitsbedeutung, und deren Namen sei in unserem Fall "Welt". Welt stünde also dafür, die universale Wirklichkeitsbedeutung überhaupt zu sein. Und so versteht sich ja der philosophische Realismus bis heute, man verwechselt dort immer noch Wirklichkeit mit Welt!

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HISTORISCHES:

Weil in der abendländischen Philosophie von Anfang an Unterschiedliches mit Wirklichkeit verbunden wurde, sind Wirklichkeitsdefinitionen bis heute auch niemals konsensfähig formuliert worden. Als Thales die Auffassung vertrat, alles sei Wasser, Pythagoras, alles sei Zahl, Parmenides, alles sei das Sein, Heraklit dunkel, alles sei Feuer oder Empedokles, alles sei liebender Kampf usw, dann diente jeweils ein ausgezeichnetes Substrat der Welt als Folie für eine einheitsstiftende Wirklichkeitsdefinition. Bis heute hat sich im Prinzip an dieser Grundausrichtung wenig geändert: Physiker, Biologen, Soziobiologen, Neurologen, Informatiker, Sprachwissenschaftler, Geisteswissenschaftler, Systemwissenschaftler und natürlich auch Theologen produzieren immer noch im Medium ihrer Fachbereiche Begriffsverallgemeinerungen, die sie mehr oder weniger reflektiert im Sinn von Wirklichkeitsdefinitionen vestanden wissen wollen. Noch gar nicht lange ist es außerdem her, daß es modisch war, sich im Gefolge einer neomarxistischen neuerlichen Romantik einen Materialisten zu nennen. Im Faschismus wollte man alles mit dem Begriff "Leben" in Verbindung bringen und im Neukantianismus der späten Kaiserzeit mit "Kultur", unter deren Gesichtspunkt Empirisches werthaft interpretiert und zweckmäßig begründet wurde. Wer sich heute darüber hinaus philosophisch zum Realismus bekennt, versteht seine Wirklichkeitsdefinitionen irgendwie als Weltgegebenheit, entweder als bewußtseinsmäßige Außenwelt, lebensmäßige evolutionäre Anpassungswelt oder auch nur praktische Bewährungswelt. Wer dagegen umgekehrt Welt und Wirklichkeit für eine konstruktive Erzeugung unseres Gehirns hält, kann die unbestreitbare gemeinsame Wirklichkeit für alle auf unterschiedliche sprachliche Vorgaben, Strukturen, Projektionen, Paradigmen, Verhaltensweisen zurückführen, von denen her dann gleichsam durch die Hintertür Definitionen eingeführt werden, die im Sinne von Wirklichkeitsdefinitionen verstanden werden.

Auf der Begriffslandkarte läßt sich zeigen, daß im Laufe der abendländischen Philosophiegeschichte kaum ein Begriff (bis hin zur vierten, ja fünften Bedeutungsebene) nicht irgendwann einmal von irgend einem Philosophen mit der ganzen Wirklichkeit verwechselt worden wäre. Durchgängig lassen sich im Vorfeld des Denkens Verabsolutierungen von Teilwirklichkeiten nachweisen, so als handle es sich bei ihnen um das Ganze im Sinne einer absoluten Wahrheit. Materialismus (Materie), Platonismus (Identität), Historismus (Geschichte), Empirismus (Erfahrung), Idealismus (Sinn), Rationalismus (Denken), Vitalismus (Leben), Subjektivismus (Subjekt), Existenzialismus (Existenz), Solipsismus, Esoterik, Freudianismus oder Phänomenalismus (Bewußtsein), Symbolismus (Sprache), Szientismus (Intersubjektivität), Strukturalismus (Theorie), Dezisionismus (Handeln), Pragmatismus (Verantwortung), Marxismus (Lebenswelt), Darwinismus (Natur), Utopismus (Möglichkeit), Fatalismus (Notwendigkeit), Apokalyptik (Horizont), Relativismus (Situation), Liberalismus (Freiheit), Hedonismus (Glück) usw. Auch die sogenannten großen Philosophen standen da nicht abseits, auch wenn sie es sich mit der Verabsolutierung von Teilwirklichkeiten und Teilwahrheiten nicht ganz so leicht machten: So hat der frühe Heidegger alle Wirklichkeitsdefinitionen vom Dasein, der späte aus dem Ereignis ableiten wollen, der früher Ludwig Wittgenstein favorisierte die Logik, der späte die Sprache, der frühe Karl Jaspers die Existenz, der späte die Vernunft, der frühe Hans Georg Gadamer den Text, der späte den Dialog, der frühe Karl Popper das weltoffene Experiment, der späte die weltgebundene Theorie, der frühe Jürgen Habermas das emanzipative Interesse, der späte Verständigung und Diskurs usw: Überall haben wir es mit mehr oder weniger verschwiegenen Vorurteilen zu tun, die explizite oder implizite Wirklichkeitsdefinitionen letztlich unausgewiesen nach sich gezogen haben.

Und dabei war mit Platons Fragen nach dem, was die Tugend, die Freundschaft, die Liebe, die Frömmigkeit, der Staat, die Gerechtigkeit usw ist, bereits ein Reflexionsniveau erreicht gewesen, das es eigentlich hätte verbieten müssen, zu naiv Teilwirklichkeiten mit der ganzen Wirklichkeit zu verwechseln, denn Platons Ideen waren in keiner umfassenden Wirklichkeitsbedeutung einseitig verankert. Wie im Höhlengleichnis bildlich dargestellt ging es Platon um die Erkenntnis der mit Namen genannten Sachen selbst im allgemeinen Begriff: Die Tugend z.B. war eben nicht die Tapferkeit allein, nicht die Weisheit oder Gerechtigkeit allein, sondern etwas, was alles diese als Einzeltugenden in einer höheren Allgemeinheit vereint. Indem Platon nach dem fragt, was etwas als etwas "in Wahrheit" ist, sucht und bildet er Seinsdefinitionen, die analytisch gegliedert und dialektisch miteinander vermittelt werden. Da es ihm aber bei der Wahrheit noch nicht direkt um Bedeutungsangaben von Seinsbegriffen, sondern vorwiegend um die Beseitigung logischer Widersprüche ging, und da er darauf verzichtete, seine Ideen universal zu ordnen, ist eine Neuaneignung Platons von der Nachwelt zwar immer wieder als eine Befreiung aus zu eng gestrickten Denkmustern empfunden worden, hat aber zu keinem Weg aus dem Dschungel der als Wirklichkeit verabsolutierten Teilwirklichkeiten geführt. Niemand war bereit, die Spannung auszuhalten, mit der bei Platon noch die Erkenntnis "in Wahrheit" und "in Wirklichkeit" in einer anfänglichen Offenheit zusammengehalten wurde. Stattdessen boten sich die bequemeren Wege, die Spannung aufzulösen hin zur absoluten Wirklichkeit entweder als einer besonderen, oder als einer allgemeinen: Die besondere Wirklichkeit konnte man dann beschreiben und als Erklärungsprinzip verwenden, die allgemeine Wirklichkeit bot sich als ein jenseitiges Reich zu dieser Welt an, von dem her alles Irdische relativiert werden konnte.

Dem christlichen Mittelalter ist Platons großartiger Ansatz hauptsächlich in zwei so entgegengesetzten wie mißverständlichen Versionen zugänglich geworden. Da trennte Aristoteles Platons Erkenntnisschritte säuberlich, wies die Wahrheitsfrage der Logik (Analytik) zu, orientierte die Seinsdefinitionen an dem, was er als Substanzen für die Einheiten des Wirklichen hielt und unterstellte Wirklichkeitsdefinitionen mehr oder weniger offen und konsequent als Beschreibung der Natur. Das späte Mittelalter übertrug das Naturverständnis des Aristoteles auf die Schöpfung und übernahm für seine Seinsdefinitionen die Prinzipien, die Aristoteles als Konstanten seiner Substanzen herausgearbeitet hatte: Gattung, Differenz, Attribut, Akzidenz, Proprium; Die Wirklichkeit wurde als Schöpfung auf diese Weise begrifflich verdinglicht. Plotin dagegen versuchte, Platons Ideen auf das Eine des wahren Seins hin zusammenzufassen, wobei ihm die Wirklichkeitsdefinitionen zu einer Begriffsbildkarte gerieten, die Wirklichkeit ausschließlich als transintelligibles Seinsmysterium mit der logischen Konsequenz darstellte, daß die Karte, statt wertfrei zu orientieren, als Eintrittsbillet für einen Heilsweg den Adressaten in Bann zog. Während des ganzen Mittelalters war es in dieser Tradition möglich, die Existenz des Schöpfers und seiner Transzendenz in die Wirklichkeitsdefinitonen mit hineinzunehmen und damit eine umfassende Weite im spirituellen Sinn zu wahren: Die Wirklichkeit wurde als Dieseits transzendiert. Scholastik und Mystik sind so zwei Seiten des mittelalterlichen Denkens, die eigentlich wenig miteinander zu tun hatten und nur von der übergreifenden Idee der biblischen Theologie zusammengehalten wurden

Mit dem Zerfall des christlichen Weltbildes, dem Aufkommen der modernen Naturwissenschaft und der massenhaften Aufklärung mußte dieses Nebeneinander sich langsam als Anachronismus erweisen. Zunächst erfolgte eine Radikalisierung in beiderlei Richtungen: Wissenschaftlich suchte man am Leitfaden des Euklid nach geometrischen und mathematischen beweisbaren Prinzipien, um auf diese Weise die Schöpfung in Naturgesetzen einfacher begreifen zu können. Newtons "Principia mathematica" sind dafür das glänzendste Beispiel, es schien für seine kundigen Zeitgenossen, als sei endlich der Königsweg, die Wirklichkeit zu definieren, gefunden. Theologisch erfolgte mit Luthers Reformation eine konsequente Rückbesinnung auf die Grundlagen des christlichen Glaubens bei Paulus und Augustin. Mit der religiösen Neuanknüpfung an den Buchstaben der Bibel glaubten damals viele, sich von ketzerischem Irrglauben gleicherweise wie von philosophischem Aberglauben zu emanzipieren. Nach den Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges mußte diese zugespitzte Dichotomie vor den Augen einer zunehmend gebildeten Gesellschaft aber in sich zusammenfallen: Die Glaubenswahrheiten verloren in dem Maß an Autorität, wie die wissenschaftlichen Wahrheiten an Prestige gewannen. Die Aufklärung trat ihren dornigen Siegeszug an, Unvoreingenommenheit begann, angesagt zu werden.Die Zeit rief nach einem neutralen Schiedsrichter, bis hin zu Kant aber vermochte die Philosophie dieser Schiedsrichterrolle nicht gerecht zu werden, weil man entweder die Erfahrung (Angelsachsen) oder die Ratio (Kontinentalmetaphysik) zum archimedischen Punkt erhob, was sich widersprechen mußte, weil es sich um verabsolutierte Teilwirklichkeiten handelte.

Mit Kants transzendentalem Denken von einer Position her jenseits von vordergründigen Wirklichkeitsvorurteilen wurde die Kluft beseitigt, das Reich des legitimen Glaubens und das Reich des legalen Wissens wurde klar geschieden und Wirklichkeitsdefinition auf das überhaupt Wissbare begrenzt. Mit Kant wird das Reflexionsniveau Platons wieder erreicht und insofern sogar überschritten, als nun seine Kritiken eine Begriffslandkarte des im Licht der modernen Naturwissenschaft Wissbaren erstellen, zu der Platon noch nicht in der Lage gewesen wäre. Bei Kant fanden alle Definitionsweisen wieder zu einer Einheit: Aber nur in der propädeutischen Kritik. In dem Augenblick, in dem Kant "zur Doktrin" schreitet, um seine von den Kritiken gesicherte Begriffslandkarte zu erstellen, meint er auch hier durchweg analytisch verfahren zu dürfen, obwohl die dabei unterstellten empirischen Einsichten vordergründig und die verfolgte deduktive Methode nicht an Bedeutungen, sondern an Kategorien orientiert waren. Weil Kants Wirklichkeitsdefinitionen in seiner Metaphysik weder umfassend genug waren noch höchsten intersubjektiven Ansprüchen genügten, hatte der Deutsche Idealismus gegen ihn leichtes Spiel: Fichte ersetzte die Vielfalt der Ursprünge durch das einheitliche Prinzip des reflektierenden Ichs, dementsprechend nun Wirklichkeit als etwas Wirkliches deduktiv definiert werden konnte. Und Hegel gelang es im Anschluß daran, alle Definitionsweisen zu einer neuerlichen Einheit zusammenzufügen, um den Preis allerdings, daß nun a) Wirklichkeitsdefinitionen den Stufen entsprechen, die der absolute Geist auf dem Weg zu sich selbst zurücklegt, daß b) Wahrheitsdefinition nicht mehr Bedeutungen kontrollieren, sondern den Gang dieses Selbstwerdungsprozesses explizieren und c) Seinsdefinitionen nichts anderes sind als als die logischen Grundlagen dieses Selbstwerdungsprozesses. Nur wenn alles Wirkliche nichts als Geit ist, sind Hegels Wirklichkeitssdefinitionen plausibel. Da aber alle Wirklichkeit nicht Geist ist, und zudem von Hegel unabhängig von seinem eigenen System im Vorfeld nicht gesagt werden konnte, was Geist eigentlich "ist", wenn wir von ihm sprechen, handelt es sich bei Hegels System nicht mehr um Seinsbestimmungen sondern um Seinsspekulationen.

Weder Kants transzendentaler Ansatz noch Hegels gigantischer Versuch, alles Wirkliche "in Wirklichkeit" zu definieren, haben deswegen den Weg freimachen können für eine umfassende Definitionsgrundlage, die das, was "ist", argumentativ plausibel darzustellen vermochte. Indem Hegel sein ganzes Wissen in einer Enzyclopädie zusammenfasste, schien er der Aufklärungsidee Diderots mit der großen Französischen Enzyklopädie des achzehnten Jahrhunderts die philosophischen Systemgrundlagen liefern zu können. Aber genau so wenig wie bis heute irgend eine Enzyklopädie mehr bieten konnte, als umgangssprachlich geläufige Beschreibungen, genauso wenig gelang es Hegels gesammeltes Wissen des absoluten Geistes umgekehrt, der empirischen Welt von der Sache her gerecht zu werden: Der Fortschritt der naturwissenschaftlichen Erkenntnis entlarvte bald die Hegelschen Phänomenbeschreibungen als abstrakte Vorurteile allem Besondern gegenüber, und die Geschichte ging einfach weiter, der Weltgeist schien also noch lange nicht endgültig zu sich selbst zurück gefunden zu haben und damit zur Ruhe gestellt zu sein. Im Geiste Hegels, aber gegen ihn, versuchte es später der Positivismus noch einmal, im Bunde mit den Wissenschaften die erkennbare Welt in deskriptive Begriffe zu fassen, scheiterte aber spätestens mit Cranaps großangelegten Projekt einer universalen wissenschaftlichen Enzyclopädie mit dem Ziel, die Einheit der Welt auf die Einheit der Wissenschaften zurückzuführen. Und Edmund Husserls Phänomenologie bemühte sich, gegen die erkenntnistheoretische Bevormundung des Neukantianismus "von den Sachen selbst her" die Welt als das dem Bewußtsein grundlegend Gegebene sichtbar zu machen, fand dabei aber niemals zu einem überzeugenden Orientierungsmaßstab und scheiterte am Fortgang der Ereignisse und an der Inflation phänomenologischer Systemversuche. Seither vermehrt sich das Wissen in der Welt in beinahe exponentiellem Maßstab. Mit Hilfe der Mikroelektronik stehen bislang ungeahnte Kapazitäten der Datenspeicherungen zur Verfügung, aber von grundsätzlichen Orientierungsmustern ist immer seltener die Rede, nicht einmal mehr die einzelnen Fachbereiche bzw. Sachgebiete vermögen von Experten heute noch zureichend zu überblickt zu werden.

In Reaktion auf das Scheitern von Positivismus und Phänomenlologie richteten sich die bleibenden Versuche der Fachphilosophen, Ordnung und Orientierung in die wachsende Wissensflut zu bringen, immer mehr auf die Explikation der Grundlagen von Intersubjektivität überhaupt, deren Kenntnis es ermöglichen sollte, wahren Aussagen über das , was "ist", argumentativ eine Basis zu verschaffen. Jürgen Habermas rekonstruiert in diesem Sinn sogar die ganze abendländische Geschichte als einen Fortschrittsprozeß, der von einer ontologischen Ausrichtung der Fragestellung über den bewußtseinsphilosophischen Ansatz seit Descartes und Kant zur endlichen Ausrichtung an der Intersubjektivität führte. Aber das ist ein groteskes Mißverständnis, denn erstens kann man Platon z.B. nicht auf einen ontologischen Grundansatz festlegen und gleichzeitig den Willen zur Intersubjektivität bestreiten, noch war Kant Bewußtseinsphilosoph und seinerseits nicht interessiert an Intersubjektivität, wie wäre sonst auch seine Folgewirkung verständlich? Und zweitens bedeutet die primäre Ausrichtung an Intersubjektivität noch lange nicht, daß damit schon ein Schlüssel für gültige Verständigung gefunden ist. Mit der Wahrheitslogik von Frege und der Zeichentheorie von Peirce soll angeblich die Wende zu einem letztendlich verbindlichen Philosophieren eingetreten sein, aber im Resultat haben wir es nur mit einem Berg gescheiterter Einheitsversuche zu tun. Alle Ansätze einer universalen Einheitssprache wie auch immer scheiterten an der Unhintergehbarkeit der ereignisgebundnen Umgangssprache, in der sich sowohl Noam Chomskys universale Syntax bedeutungsmäßig zu bewähren hat, als auch jede metasprachliche Regelung (Tarski) letztendlich eingebunden ist, jede Zeichenkonzeption der Realität ihre ultimative Interpretation findet (Josef Simon, Günter Abel), jede dialogische Grundlegung von Termini ihren Bedeutungsrahmen (Kamlah/Lorenzen), jede hermeneutische Exegese ihre Konsensbasis (Hans Georg Gadamer), jede kulturelle Handlungsfundierung ihren paradigmatischen Deutungsort (Strukturalisms), jede universale Systemtheorie ihren Verwendungsrahmen (Luhmann), jede konstruktive Bewußtseinssystematik ihre Verständigungsbasis (Radikaler Konstruktivismus), jede kommunikative Informationstheorie ihren Verständnishintergrund (Minsky) , jede verfahrenstechnische Diskursphilosophie ihren Argumentationsbezug (Haberma). und jede quasitranszendentale Argumentationstheorie ihre Normenbewertung (Karl Otto Apel).

Am Ende erweist sich die Intersubjektivitätsinsistenz der Gegenwartsphilosophie als eine letzte Verwechslung der Wirklichkeit mit einer Wirklichkeitsbedeutung. Indem Sprache bzw. Sinn, Information, Verständigung, Lebenswelt unausgesprochen zur ganzen Wirklichkeit verabsolutiert werden, kann intersubjektive Evidenz im Verständigungsprozeß sich nicht zwanglos bilden, wird stattdessen manipulativ erzwungen oder erschlichen. Und weil man es zu keinem verbindlichen Wirklichkeitsbezug gebracht hat, rekurriert man auf Wahrheitsbezüge, so als handle es sich dabei um den privilegierten Wirklichkeitsbzugang par excellence. Weil Wahrheit aber ihrerseits nur auf Wirklichkeit bezogen verbindlich definiert werden kann, wenn man es nicht bei der Inhaltsleere der formalen Logik belassen will, ist inzwischen auch der Wahrheitsbegriff ins Gerede gekommen. Immer mehr wollen sich heute mit Nietzsche und Richard Rorty von einer angeblichen Tyrannei der Wahrheit befreien und möchten stattdessen, im prallen Leben des Alltags neu zu Hause angekommen, nur noch dem gesunden Menschenverstand fröhnen. Damit wird ernsthafte Philosophie zu Grabe getragen und somit haben am Ende der neuerliche Pragmatismus als Erbe der analytischen Philosophie (seit Bertrand Russell) und die Postmoderne als Auslaufsmodell von Strukturalismus (seit Levy-Strauss), logischem Empirismus (Carnap) und Kritischen Rationalismus (Popper) leichtes Spiel. Wer diese Entwicklung immer noch nicht wahr haben möchte und wie ein Jürgen Habermas etwa glaubt, weiterhin die Wirklichkeitsfrage ignorieren zu dürfen, bietet ein trauriges Schauspiel: Die selbstgewählte Rolle eines Platzhalters der Vernunft kontrastiert dann immer mehr mit grotesken sachlichen Fehlurteilen und entpuppt sich in öffentlichen Statements zunehmend als hartnäckiges Festhalten an alten Feindbildern, die den Umständen entsprechend laufend fortgeschrieben werden, um auf diese Weise weiterhin eine bequeme Argumentationsbasis suggerieren zu können, die über den fehlenden Wirklichkeitsbezug hinwegtäuschen soll.

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Letzte Änderung dieser Seite: 09.07.2003