Ein Seinsbegriff ist analysierend erschöpfend dargestellt, wenn seine Bedeutungskomponenten zusammen sich wechselseitig spiegelnd interpretieren. Bei jeweils fünf konstanten Seinsbedeutungen gibt das zusammen noch einmal fünfundzwanzig, alles in allem also 31 Seinsbedeutungen, die sich in einem Diagramm als Begriffsbild darstellen lassen.
Wie kann man überhaupt von einem Begriffsbild des Seins sprechen?
Nur aus dem Grund, weil Wirklichkeitsbedeutungen sich in etwas Wirklichem wiederholen müssen, wenn die Bedingungen der Möglichkeit von Wirklichkekeit überhaupt erfüllt sein wollen.
Und wie von einem vollständigen Begriffsbild?
Vollständig heißt in diesem Fall erschöpfende Bedeutungsangabe. Wenn Wirklichkeit z.B. immer auch Welt bedeutet, gleichzeitig aber auch Ereignis, Intersubjektivität, Subjektivität und zusammenfassend Sein, dann muß auch die Welt selbst, wenn ihre Bedeutung erläutert werden soll, einen ereignishaften, intersubjektiven, subjektiven und seinshaften Bedeutungsaspekt haben, um etwas Wirkliches repräsentieren zu können.
Handelt es sich dabei um eine Interpretationsvorschrift?
Das ist keine Vorschrift, aber eine logische Konsequenz aus der Prämisse, daß Wirklichkeit alles ist und alles wirklich. Dementsprechend muß auch alles Wirkliche alle Wirklichkeit ausmachen und alle Wirklichkeit alles Wirkliche. Die Logiker mögen diese Behauptung auf ihre Selbstwidersprüchlichkeit hin überprüfen.
Aber wenn es sich dabei doch um ein Dogma handelt?
Dogmen kommen immer unbedingt daher, oder suggerieren wenigstens, daß es zu ihnen keine Alternative gibt. Hier handelt es sich nur um Bedingtes, denn die Prämissen liegen auf dem Tisch, und mögliche Alternativen werden nicht abgeblockt. Aber woher sollten sie sich einfinden? Etwas Wirkliches kann nur dann wirklich sein, wenn es die Bedingungen der Möglichkeit von Wirklichkeit erfüllt.
Aber etwas Wirkliches ist doch nicht die Wirklichkeit!
Aber es kann nur dann das Prädikat "wirklich" tragen, wenn es die Kriterien für Wirklichkeit erfüllt. Der Unterschied zwischen Wirklichkeit und etwas Wirklichem liegt nicht in dem Wirklichsein, sondern in seiner Präsentation.
Und wie unterscheiden sich die Präsentationen von Wirklichkeit und etwas Wirklichem?
Wirklichkeit präsentiert sich bedeutungsmäßig unter den letzten Bedingungen ihrer Möglichkeit überhaupt. Etwas Wirkliches ist aber diesem unbedingt allgemeinen Wirklichen gegenüber Bedingtes und Besonderes. Die letzten Bedingungen der Möglichkeit müssen also bedeutungsmäßig auf vorletzte, drittletzte usw eingeschränkt werden, und die Bedeutungsangaben werden deshalb namentlich weiter unterschieden und genauer in der Unterscheidung.
Ein Begriffsbild des Seins sagt also, was dieses als etwas Wirkliches "in Wirklichkeit" genau "ist"?
Ja, wenn dabei das Wort "genau" ganz ernst genommen wird. Die Genauigkeit muß einmal das Kriterium für Wirklichkeit überhaupt reproduzieren, um nicht selbstwidersprüchlich zu werden, sie muß zum anderen die spezifische Bedeutungsdifferenz zwischen der allgemeinen Wirklichkeit und dem besonderen wirklichen Etwas erfassen.
Kann man das einmal an einem Beispiel erläutern?
Bleiben wir bei dem allgemeinsten Seinsbegriff, der Wirklichkeit selbst und konzentriere wir uns auf die Welt. Wie die Wirklichkeit selbst muß auch die Seinsbedeutung von Welt, wenn sie sich auf etwas Wirkliches beziehen will, neben der eigentlichen von Weltlichkeit auch noch der Ereignishaftigkeit, Intersubjektivität und Subjektivität gerecht werden. Und nun gilt es "genau" das jeweils richtige Wort für "ereignishafte Welt", "intersubjektive Welt" , "subjektive Welt" und "Seinswelt" zu finden. Die gefunden Worte kennzeichnen die Wirklichkeitsbedeutung der Welt genau als weltliche Wirklichkeit. Die Wirklichkeitsbedeutgungen von Welt sind also Materie, Geschichte, Theorie, Erfahrung und Realität.
Was aber soll hier "Weltlichkeit der Welt" heißen?
"Weltlichkeit der Welt" enspricht im Begriffsbild von Wirklichkeit analytisch der Leerstelle, deren Bedeutung nicht durch die anderen Wirklichkeitsbedeutungen gespiegelt wird, sondern sich auf sich selbst bezieht. Sie bezieht sich auf sich selbst im bestimmten Unterschied zu den Spiegelbedeutungen, also auf einer bestimmteren Ebene als der übergeordnete Terminus "Welt". Wenn die Welt nicht ohne Erfahrung, Theorie, Geschichte und zusammenfassen Realität zu Recht "in Wirklichkeit" Welt bedeutet, dann brauchen wir zur Vollständigkeit noch einen Namen für das, als was wir "Welt" im ungespiegelten Restbestand noch zu verstehen haben, denn die Spiegelungsbedeutungen sind ja Bedeutungen von etwas.
Welt bedeutet "in Wirklichkeit" also Materie?
Nur wenn die anderen Weltbedeutungen mitgedacht werden, dann meinen wir mit "Welt" genau die Materie, die sich als Geschichte, in Theeorie und Erfahrung insgesamt als Realität darstellt.
Ist dann die eigentliche Bedingung der Möglichkeit von Welt Materie?
Von sich her gedacht könnte man das so sagen. Aber dabei darf nicht vergessen werden, daß es auch keine Welt "gibt", wenn sie nicht erfahren werden kann, keine, wenn sie sich als solche nicht geschichtlich zeigen kann, keine, wenn sie nicht als irgendeine Einheit identifiziert werden kann und zusammenfassend keine, wenn sie uns nicht in Beständigkeit herausforderte.
Aber die Bedeutung "Materie" hat einen transzendentalen Vorrang vor den Spiegelbedeutungen.
Im gedachten Sinn ja, man könnte sie dehalb Schlüsselbedeutung nennen. Denn ohne Materie ist die Welt nicht. Auch wenn noch so viele Erfahrungen gemacht werden: Diese selbst sind ja ihrerseits wieder an lebendige Materie gebunden; - Auch wenn noch so viel Zeit verstreichen würd:, Diese selbst wäre ohne eine Minimalbewegung gar nicht erscheinungsfähig; - Auch wenn noch so viele Weltbilder erstellt würde: Gedanken und Sprache wären ohne materielle Bezugspunkte leer.
Aber dieselben Überlegungen kann man für die anderen Wirklichkeitsbedeutungen machen.
Richtig gesehe: Jede ausdifferenzierte Wirklichkeitsbedeutung besitzt ihre eigene Schlüsselbedeutung, auf welche die jeweiligen Spiegelungen sich in ihrem Sinn beziehen. Beim Subjekt ist es das Bewußtsein, intersubjektiv die Sprache, ereignishaft die Zeit, beim Sin das Sosein. Insofern verfügen alle von sich her gesehen um Spiegelungsbezugspunkte.
Welchen Sinn aber hat das Wort "Seinswelt", was spiegelt sich da?
Sein ist ja die Wirklichkeitsbedeutung, als welche Wirklichkeit als etwas Wirkliches identifiziert werden kann. Insofern muß es auch einen Namen dafür geben, was die Wirklichkeitsbedeutungen von Welt zusammenfassend darstellen. Im Unterschied zur Schlüsselbedeutung, die den harten elementaren Kern auf der Spiegelungsebene repräsentiert, bezieht sich die Seinsbedeutung auf den zusammenfassenden Sinn der Spiegelungsbedeutungen: Das insgesamt Gespiegelte bekommt seinen Namen.
Dieser neue Name "Realität" bezeichnet aber doch dasselbe wie der ursprüngliche Name "Welt"?
Ja und nein, denken wir an die genauere Bestimmung von "Sinn von Sein" beim Stichwort "Seinsbegriff": Natürlich meint "Realität" genau das, was wir mit "Welt" meinen, wenn wir ihre Bedeutung präzisieren. Aber "Realität" meint eben genauer, was wir mit Welt meinen, weil dabei die Spiegelbedeutung miterinnert werden, und ist deshalb informativer. Ebenso war es bei "Sosein" für Sein: Sosein meint Sein, ist aber informativer. Die Seinsbedeutungen meinen also eigentlich Informationssteigerung über den Bedeutungsgehalt.
Seinsbedeutungen sind dann aber doch keine Spiegelungen, sondern Synthesen!
Sie sind beides: Indem sie Wirklichkeitsbedeutungen zusammenfassen, so wie Sein im Blick auf Wirklichkeit und Realität im Blick auf Welt, sind sie Synthesen. Insofern aber diese Synthesen selbst in der Spiegelung mitreproduziert werden,. sind auch Seinsbedeutungen Spiegelungen. Sie repräsentieren das dialektische Element im Begriffsbild.
Seinsbedeutungen sind also das Resultat von Gedankenkonstruktionen. Die anderen Bedeutungen auch?
Alle Bedeutungen sind Resultat einer analytischen Explikation und insofern Gedankenresultate. Aber diese Gedanken machen nur sichtbar, was unausgesprochen Wirkliches bedeutet, wenn genauer hingesehen wird. Das genauere Hinsehen zielt bei der Schlüsselbedeutung auf die gegebene Phänomenalität, die jde Spiegelung zum Bezugspunkt hat. Bei der intersubjektiven Spiegelung kommt es auf die Explikation der analytischen Zusammenhänge an, bei der ereignishaften auf die der empirischen Umstandssicherung und bei der subjektiven auf die der semantischen Bedeutungsunterschiede. Alles zusammen ist Gedankenarbeit. Aber weil sie eben alles zusammen leistet, handelt es sich nicht um Gedankenerfindung, sondern um Gedankenenthüllung als Wirklichkeitserhellung.
Sind also Begriffsbilder Produkte einer Wiedererinnerung?
Wenn das Wort nicht zu eng gefaßt wird, gewiß. Die Wirklichkeit wird ja nur genauer bedeutet, wobei das bisher Unbekannte, das zu entdecken gilt, bereits als im Prinzip "gegeben" vorausgesetzt werden muß, das dabei Subjektive als zuvor noch undeutlich und unverstanden, das Ereignishafte als in letzter Instanz universal vermittelt und das Intersubjektive als eine Folie, deren Konturen nur schärfer wahrgenommen und eingesetzt werden, nicht grundsätzlich sich wandeln.
Und auch die synthetischen Seinsbedeutungen sind keine kreativen Schöpfungen des Geistes?
Das eine schließt das andere nicht aus. Auch Seinserinnerung schließt kreative Gedankengänge nicht aus, Indem wir Wirklichkeitsbedeutungen kreativ namentlich zusammenfassen, genügen wir einem vorgäng zu Erinnernden, das seinerseits in jeder Weise seiner Wirklichkeitsbedeutungen kreativ ist.
Können Seinsbedeutungen im Begriffsbild auch Schlüsselbedeutungen haben?
Ja, immer dann, wenn sie ihrerseits Seinsbegedeutungen spiegeln. So ist "Sein" die Seinsbedeutung von Wirklichkeit, aber auch der Schlüsselbegriff der Wirklichkeitsbedeutungen, weil alle Wirklichkeitsbedeutungen ihrerseits sich auf Sein beziehen müssen, um etwas Wirkliches zu sein. Weiter ist Sosein die Seinsbedeutung von Sein, aber auch seine Schlüsselbedeutung, weil alle Spiegelungen von Sein sich auf Sosein beziehen usw.
Welche konstanten Elemente gehören dann definitiv zu einem Spiegelbegriff?
Zuerst 1) der Ausgangsbegriff als Ausgangsbedeutung, die es zu präzisieren gilt. Dann 2) die fünf Wirklichkeitsbedeutungen, die zusammen sagen, was wir unter dem Ausgangsbegriff verstehen. Indem wir weiter sagen, was diese Wirklichkeitsbedeutungen uns ihrerseits bedeuten, erhalten wir 3) 25 zusätzliche Bedeutungen, von denen 4) sich 20 wechselseitig spiegeln, 5) von denen 5 auf sich selbst als Schlüsselbedeutungen verweisen und 6) von denen 9 die Funktion von Seinsbegriffen haben, 7) deren eine in der Doppelfunktion von Schlüssel - und Seinsbedeutung steht.
Und wie sind Seinsbegriffe untereinander im Begriffsbild geordnet?
Im Prinzip sind Nummerierung und Reihenfolge beliebig, es empfielt sich der Übersicht wegen natürlich, eine bestimmte Ordnung einzuhalten. So empfielt es sich auch, die Seinsbegriffe in die Mitte zu platzieren, so daß die synthetischen Seinsachsen (in unserem System unterstrichen) exemplarich ins Auge fallen und vor allem die eine Seinsbedeutung in der Funktion von Schlüssel - und Seinsbedeutung zugleich ganz in die Mitte rückt. Diese Bedeutung ist ja gewissermaßen der Kern der ganzen Bildbedeutung, insofern in ihr alle 25 Bedeutungen noch einmal synthetisch zusammengefaßt werden.
Welche weiteren Überlegungen leiten die Bildanordnung der vorliegenden Begriffssystematik?
Indem Welt und Subjekt in die Außenstellungen kommen, bleibt eine gewisse erkenntnistheoretische Ausrichtung erhalten, so wie sie seit Descartes in der Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt üblich geworden ist. Den beiden Zwischenstellungen kommen in dieser Konstellation dann die unentbehrlichen Vermittlungsfunktionen zu. Damit das Subjekt Welt erkennen kann, muß ein Ereignis stattfinden und eine intersubjektive Darstellungsbühne vorhanden sein. Aber diese Anordnung ist nicht zwingend.
Was wäre die reale Alternative?
Die Mittelstellung der Seinsbedeutung hat sich bewährt. Würde sie aufgegeben und etwas als fünfte Spalte in die rechte Außenposition rücken, könnte man auf diese Weise das synthetische Moment der Bedeutung auch zum Ausdruck bringen, aber nicht mehr so gut die vermittelnde Funktion beim Übergang von einem Begriff zum anderen im Ganzen der Seinssystematik. Würde Intersubjektivität in die rechte Außenposition rücken, könnte damit signalisiert sein, daß alle Seinnsbegrifflichkeit intersubjektiv ist und deswegen Intersubjektivität nicht als Vermittlungsinstanz zu deuten ist, sondern als der eigentliche Ort des Geschehens. So würde es vielleich Jürgen Habermas sehen, der dem Subjekt der Intersubjektivität gegenüber evidenzssichernd niemals ein gleichwertiges Gewicht beigelegt hat, so unklar das auch immer zum Ausdruck kam.
Würde eine unterschiedliche Bildanordnung, den Bedeutungsgehalt verändern?
Grundsätzlich weder im analytischen noch semantischen, phänomenalen, empirischen und dialektischen Sinn der einzelnen Bedeutungsgehalte. Es könnte aber sein, daß durch die vorgängig unterschiedliche Erwartungsperspektive im Verlauf der Bedeutungserhellung unterschiedliche Akzente gesetzt und Bedeutungsnuancen unterschiedlich interpretiert werden.
Eine Schlußfrage: Hätte es einen Sinn, etwa auch fachwissenschftliche Grundbegriff nach diesem Begriffsbild zu ordnen?
Fachwissenschaftliche Grundbegriffe sind alle theorieabhängig und von daher zweckbedingt. Will aber eine Fachwissenschaft ihre Grundbegriffe grunsätzlich und theorieunabhängig so darstellen, daß der transdiziplinäre Kontakt zu anderen Fachdisziplinen mit berücksicht wird, dann wäre das etwas anderes. In einem fächerübergreifenden transdisziplinären Sinn kann die Ausdifferenzierung des Seinsbegriffs "Welt" im weitesten Sinn als Brückenschlag zu den Ist.Begriffen der Fachwissenschaften verstanden werden.
Wäre das ein realistischer Vorschlag für eine neuerliche Grundlagenreflexion der Naturwissenschaften?
Vom Prinzip her gesehen ja. Seinsbegriffe müssen sich ja ohnehin mit Theoriebegriffen vermitteln lassen, wie komplex das auch immer sein mag. Aber die Naturwissenschaften sind trotz der Konjunktur von Transdisziplinarität noch Lichtjahre entfernt von einer solchen umfassenden Neubesinnung. Das Projekt ist noch weit davon entfernt, verstanden zu werden, von einer Realisierung kann deswegen auch noch nicht im Ansatz die Rede sein.
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HISTORISCHES.
Es ist die große Leistung Platons, im Zusammenhang mit der Begründung der Philosophie auch die Spiegelung von Bedeutungsbegriffen als Erkenntnistheorie eingeführt zu haben, womit auch schon die Differenz zu dem hier vorliegenden Ansatz angedeutet ist. Erkenntnis ist für Platon immer ein Doppeltes aus Wahrnehmung und Gedachtheit, wobei ihm das Wahrhgenommene zugleich auch ein Gedachtes ist, und das Gedachte ein Wahrgenommenes. Von einem Erkenntnisansatz her denkt Platon die Details also durchaus unter Gesichtspunkten der Seinsbegrifflichkeit. Das Liniengleichnis in der Mitte der Politeia verdeutlicht das ganz explizi: Entsprechend dem Modell des goldenen Schnittes läßt Platon eine Linie teilen und die Teile wiederum nach demselbsen Schema. Es ergeben sich dann vier Teile, von denen je zwei einmal die Wahrnehmung, zum anderen das Denken repräsentieren. Aber die doppelte Teilung bewirkt eben, daß das Wahrgenommene in ein nur Wahrgenommenes und ein gedachtes Wahrgenommenes, das Gedachte ind ein wahrgenommenes und ein nur Gedachtes zerfällt. Platons Dialektik ist durchgängig von diesem Grundansatz getragen, der sich in vielen Diskussionsbeispielen bewährt. Zu einem vollständigen Begriffsbild ist es aber bei Platon norgendwo ggekommen, weder im Detail noch im übergeordneten Maßstab. In der direkten Nachfolge hat Aristoteles mit dieser Art transzendentalen Denkens aufgeräumt: Im Zuge seiner originären philosophischen Fächereinrichtung wurde der analytische Teil der Spiegelbegrifflichkeit als Analysis logisch formalisiert. Das diaalektische Moment der Zusammengehörigkeit wurde in einer seperaten Dialektik behandelt, die vor den Standards der ausgearbeiten Analysis sich nur zweitrangig zu behaupten wußte.
Bis hin zu Kant schwankt die philosophische Grundbegrifflichkeit immer wieder erneut zwischen den Polen Platon und Aristoteles hin und her.Wer es mit Platon hielt, näherte sich Ansätzen transzendentalen Denkens brachte es zu Anfängen, wenn nicht einer spiegelbildichen, so doch vergleichenden Begriffsdarstellung. Wer sich an Aristoteles hielt, befleißigte sich der Empirie und bezog sich dabei auf Prinzipien, die irgendwie paradigmatisch festgezurrt waren, auch wenn ihnen keinerlei Beweiskraft innewohnte, und sie nur dem vorgängigen Augenschein oder der exemplarischen Autorität des Aristoteles verpflichtet waren.Zwei Ereignisse waren dabei von entscheidender Folgewirkung: Die Machtübernahme des paulinschen Christentums im Helenismus spätestens mit der ungeheueren Autorität des Augustinus begünstigte das Erbe Platons, weil die Bibel von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen ausging, und es insofern jedem theologischen Denker frei stand, sich über diese Ebenbildlichkeit - möglicherweise bis hin zu Spiegelbegriffen - Gedanken zu machen. Mit der Neuaneignung des Aristoteles aber über den Islam seit Albertus Magnus im 13. Jahrhundert hatte spiegelbildliche Dialektik keine Chance mehr und mußte sich in die private Mystik einige weniger Einzelner flüchten, um überhaupt zu überleben. Aber auch auf seiner Höhe blieb dem Mittelater die Grundspannung zwischen Aristoteles auf der einen Seite und Augustinus auf der anderen erhalten: Es gelang nie, sie ganz zu beseitigen, weil die Grundfrage nach der Trennung von Glauben und Wissen ständig neue Antworten provozierte. Und so konnte es geschehen, daß die geistigen Gipfelrepräsentanten der Zeit, der aristoteliker Thoams von Aquin einerseits und der Platoniker Nikolaus von Kues andererseits, beide auf Spieglbildlichkeit zurückgriffen: Thomas mit seinen großen Analogien, die Endliches und Unnendliches verstehbar zu vermitteln suchten, und Nikolaus mit seinem Grenzdenken, das ihm unter der Hand zu einer Spiegelmetaphorik geriet.
Daneben gab es aber auch noch das skurrile Unterfangen eines Raymundus Lullus, der im dreizehnten Jahrhundert in seiner "Ars generalis ultima" sich unterfing, durch eine Kombinatorik der obersten allgemeinsten evidenten Begriffe alle übrigen Wahrheiten abzuleiten und in ihrem Zusammenhang anschaulich darzustellen. Lullus scheint die Grundidee eines Seinsbegriffsbildes begriffen zu haben, aber da er sie im Kontext der traditionellen aristotelischen Begriffslogik entwickkelte, war von vorn herein der Wirklichkeitsbezug unklar, der Wahhrheitsbezug bedingt und der Seinsbezug blieb ganz unreflektiert. Wenn Lullus heute als einer der Vorläufer der modernen Logistik gilt, dann ist das diesem defizitären Wirklichkeitsverständnis zu verdanken und seiner Ausrichtung auf wahre Urteile: Die Spiegelbildlichkeit überlebt heute nur noch in der Logik als symmetrische Ausdifferenzierung von Wahrheitstafeln, wie sie einmal von Ludwig Wittgenstein in seinem "Tractaus Logico-Philosophicus" eingeführt worden waren.Zuvor hatte Leibniz mit seinen Monaden versucht, metaphysisch spiegelbildlichkeit mit Hilfe einer Reflexionsmetapher einzuführen, Kant aber hatte sich keine Mühe gemacht, ein ausführliches Begriffsbild seiner transzendentalen Kategorien etwa auszuarbeiten. So traumwandlerisch, wie er sich in Einzelanalysen, etwa in seiner Schrift "Zum ewigen Frieden", seiner transzendetalen Grundbegrifflichkeit bediente und so klar ihm die begrifflichen Grundeigenschaften waren, so hat er doch niemals das exemplarische Begriffsbild von etwas Wirklichem entworfen, schon deshalb, weil ihm der Seinsbegriff als leer erschien. In der Folge konnte Hegel mit einer wahren Begriffsorgie ein metaphysisches Seinsbild errichten, das sich von einer Synthese zur anderen erhob und auf jeder neuen Stufe unterstellte, damit auch schon die neue Wahrheit zu sein. Indem die Hegelsche Logik für jden nüchternen Denker in der Folgezeit zu einem abschreckenden Beispiel wurde, hat es Hegel in der Tat zur Verdunklung Platons und zum Totengräber dessen anfänglichen spiegelbildlichen Dialektik gebracht.
So wenig bei Philosophen heute platonische Dialektik und spiegelbildliche Begriffsbilder angesagt sind, so wenig kommen Wissenschaftler der unterschiedlichsten Fachbereiche darum herum. Wenn es noch erstaunlich ist, welche Rolle der Symmetriebegriff in der modernen Physik spielt, dann nimmt es nicht mehr Wunder daß Chemiker, Biologen und Genwissenschaftler bei ihren empirischen Modellen ohne die Spiegelungsvorlage gar nicht mehr auskommen: Chemische Generierungsprozesse sind autokatalytische Mechanismen, Leben ist ein Prozeß von sich selbst spiegelnder Wechsewirkungen. Selbst in der Chaosforschung hat man mit verwundertem Gestus zur Kenntnis genommen, wie ebenmäßig sich die Natur selbst in Turbulenzen reprodziert, man denke an Mandelbrots berühmte und oft portraitierte sogenannte Apfelbäumchen. Sozialwissenschaftler jeglicher Couleur müssen heute sowieso grundsätzlich in Wechselwirkungen denken, wenn ihre Analysen nicht zu kurz greifen wollen. Der modische Terminus "Vernetztes Denken" postuliert geradezu das neue Denken als revolutionäres Umdenken eines alten, das Spiegelbegrifflichkeiten noch nicht gewachsen war. Herbert Marcuse hatte in den sechziger Jahren für diese Ungespiegeltheit sinngemäß den Begriff "eindimesionales Denken" geprägt. Aber auch er hat nicht sagen können, was demgegenüber mehrdimensionales Denken ist, hat vielmehr selbst in seiner antikapitalistischen und antibürgerlichen Protesthaltung niemals eindimensonale Grundpositionen verlassen. Und so steht es mit allen übrigen heute gleicherweise: Heute wird wohl, Land auf, Land ab , so unisono wie modisch und populär, das Lied von Rückgekoppeltheit, Rekursivität, Selbstreferenz, Selbstreflektiertheit, Kommunikativität, Mehrdimensionalität, Vernetztheit, Multilateralität, Interdisziplinarität, Systemgerechtheit, Ganzheitlichkeit usw gesungen, aber grundsätzlich begrifflich darstellen, was damit gemeint ist, kann es, versucht es jedenfalls niemand. Stattdessen gibt es Spekulationen über Autopoiesie (Maturana), die keine reale Basis finden, über Koevolutionen (Jantsch), die historisch unentscheidbar sind, Paradoxien (Hofstädter), die logisch unlösbar bleiben und neuronale Gehirnentsprechungen (Minsky) , deren Übersetzungsfolie nicht hintergangen werden kann.
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