Wirklichkeit in der Zeit ist zukünftige Wirklichkeit und verlangt gegenwärtige Entscheidungen, die in Vergangenem wurzeln. Was kommen wird, ist nicht endgültig zu wissen und im Rahmen des Möglichen aufgrund bisheriger Erfahrungen zu verantworten. Die Möglichkeit von Verantwortung setzt aber eine Basis voraus, aufgrund derer Vernunft sich entfalten kann. Es handelt sich um die praktische Seite der Metaphysik, als die Wirklichkeit für uns eine jederzeitige Herausforderung ist, die augenblicklich entschieden wird. Dazu die folgenden klärenden Bemerkungen.
Metaphysische Wirklichkeit, die philosophisch erforscht, erkundet, geklärt und angeeignet werden muß, steht in der Grundsituation des Daseins, gegenwärtig stets eine Vergangenheit hinter sich und eine Zukunft vor sich zu haben. Zwischen der notwendig-bestimmten Bestimmbarkeit alles Vergangenen und der möglich-bestimmbaren Unbestimmtheit alles Zukünftigen stellt sich die Frage, was gegenwärtig gilt.
Wirklichkeit ist hier und jetzt für Subjekte, die handeln müssen und sich deswegen orientieren. Es muß deshalb geklärt werden, was, wenn überhaupt, generell getan werden soll, und wie das Gesollte in die Tat umzusetzen ist. Das gilt für jeden Einzelnen wie für alle zusammen. Es muß grundsätzlich klar sein, was, wenn überhaupt, normativ fordernd gilt, und wie auf bestimmte Situationen pflichtbewußt zu reagieren ist .
Sollen, Wollen und Können münden konkret in Handeln und Entscheiden.Was wir können, hängt von unseren Kompetenzen und Möglichkeiten ab, was wir wollen von unseren Interessen und Dispositionen, was wir Sollen aber scheint kontrovers:. Über unbedingtes Sollen , so scheint es, könnte allein der Schöpfer bindend bestimmen. Dessen Sprache aber ist interpretationsbedürftig und strittig.
Wenn über den Gotteswillen kein endgültiger Konsens hergestellt werden kann, so läßt sich doch indirekt erschließen, was ihm entsprechen könnte, wenn die Schöpfung überhaupt einen Sinn haben soll. Es läßt sich nach den Voraussetzungen dafür fragen, was unbedingt gelten muß, wenn Wahrheit von Gott gewollt ist, und nicht umgekehrt Unwahrheit das letzte Wort haben soll.
Als umfassendeVoraussetzungen möglichen Wahrseinkönnens dürfen wir der Reihe nach festhalten: a) das Leben, das sein Daseinsrecht verlangt, um Wahrheit suchen zu können, b) ein Minimum geltender Spielregeln für ein mögliches Nebeneinander rationaler Wesen, ohne die alles Dasein sich im Kampf ums Überleben erschöpfen muß und Wahrheit der Gewalt geopfert wird, c) ein Minimum an Vertrauen und Achtung im Miteinander wahrheitswilliger Wesen, ohne das keine wahrheitsfähige Gemeinschaft funktioniert, d) ein Minimum an Selbstreflektiertheit, ohne das für Wahrheit keine persönliche gewissenhafte Verantwortung übernommen werden kann und schließlich e) einen Kriterienmaßstab, mittels dessen ich in der Lage bin, meine Verantwortung universell zu rechtfertige, so daß die Berufung auf Wahrheit eine Begründung finden kann..
Umfassende Normativität unbedingten Sollens erscheint deshalb a) als die Unausweichlichkeit der Stillung elementarer Lebensbedürfnisse zum Überleben und der Selbstverwirklichung, b) als das Recht, das ein berechenbares Nebeneinander ohne Gewalt möglich macht, c) als Moral, die ein lebenswertes Miteinander "in Wahrheit" wechselseitig verläßlich macht, d) als das Gewissen, in dem ich meine eigene Identität erfahre und schließlich e) als die Vernunft, die mir einen Maßstab vermittelt, in konkreten Situtionen Konfliktsfälle zu entscheiden und mein Gewissen verantworlich erneuern zu können.
Der unbedingte Maßstab für die Vernunft ist der Kategorische Imperativ als das unbedingte, überzeitliche formale Gesetz, das so universal wie situationsunabhäng ist, daß es niemanden mehr aus der persönlichen Verantwortung entläßt. So wie im bestimmten Konfliktsfall das Recht Vortritt hat vor der Natur (wenn es nicht selbst naturwidrig ist!), so die Moral vor dem Recht, das Gewissen vor der Moral. Der Kategorische Imperativ aber ist es, der "in Wahrheit" bei der Entscheidung in jedem Konfliktsfall das zu vermittelnde und legitimierende verantwortliche letzte Wort hat.
Wahre Ethik ist alles, was reflexiv begründend dazu beiträgt, dem Kategorischen Imperativ zufriedenstellend gerecht werden zu könne. Insofern ethische Überlegungen grundsätzlich vernünftigerweise den Vorrang haben vor bloßen Lebensinteressen, Rechtsvorschriften, Gruppenegoismen und spontanen Gewissensappellen, zeichnet sich eine ethische Haltung durch ein Ethos aus, das in letzter Instanz Wahrhaftigkeit auch gegen Interessenwiderstände normativ einklagt.
Ethik, die einem wahrhaftigen Ethos entspricht, ist Verantwortungsethik , weil es ihr nicht mehr gestattet ist, die direkte Verantwortung für Folgen und Nebenfolgen eigener sittlicher Entscheidungen zu ignorieren und ist deshalb grenzenlos selbstkritisch, insofern sie auch noch ihre eigenen letzten Prinzipien jederzeit verantworten muß. Im bestimmten Unterschied zu ihr folgt Gesinnungsethik jeweiligen Prämissen sklavisch und ist nicht bereit, für diese situationsspezifisch Eigenverantwortung zu übernehmen.
Sonderethiken, die sich in bestimmten Normen, Werten, Situationen und Grundsätzen rational verallgemeinernd ausdifferenzieren, dienen lediglich bestimmten gesellschaftlichen Milieus, Teilorganisationen und -institutionen zur Systemerhaltung. Sie müssen vernunftwidrig werden, wenn si, in Konkurrenz mit Verantwortungsethik normativ Grundsätzliches verkomplizieren und zerreden und damit am Ende öffentlich verdunkeln. So notwendig ernsthafte ethische Diskussionen im Einzelfall sind,so überflüßig ist der Ruf nach einer neuen Ethik. Es gibt nur die Ethik, keine Ethik im Plural.
Verantwortungsethisch reflektierte Ethik moralisiert nicht, sondern entlarvt und bekämpft moralische Heuchelei wo immer sie ihr begegnet. Weil moralisierende Selbstgerechtigkeit und Heuchelei fast überall das Gewand ist, in dem Ethik in der Gesellschaft normalerweise daher kommt, ist Moralkritik geradezu ein Muß für jede verantwortungsethisch wahrhaftige Gesinnung. Außeralltägliches Ethos muß permanent gegen alltäglichen Moralismus eingeklagt werden.
Ein schlimmes Besispiel für für moralische Heuchelei ist bietet die sogenannte Friedensbewegung in aller Welt seit dem Vietnamkrieg, die Frieden pazifistisch zum absoluten Maßstab für jede Situation erhebt, und dabei Diktaturen jeder Art willig in Kauf nimmt. Ginge es nach der Friedensbewegung, wäre die Welt heute ein Chaos, in dem Mord und Totschlag das letzte Wort hätten.
Nirgendwo ist die Versuchung zur moralischen Heuchelei im eigenen Interesse so groß, wie in der Politik (Umgang mit der Macht im Interesse und Auftrag der Allgemeinheit) als gesellschaftliches ethisches Mandat, weil nirgendwo sonst moralische Ansprüche so sehr mit Macht- und Prestigeinteressen verwoben sind, wie dort. Selbst wenn der erhobene Zeigefinger einmal ausnahmsweise auf den Autor selbst zeigt, weiß man ni e genau, welche Strategie sich dahinter letztlich verbirgt. Man kann normalen Politikern moralisch buchstäblich nichts glauben, wenn sie nicht von sich selbst her den Gegenbeweis anzutreten vermögen.
Politik sollte anvertrauter, verantworlicher, unbedingter Umgang mit der Macht sein, ist aber de facto heute allenthalben meist ein Kampf um die eigene Macht, in dem alle Mittel recht sind, vorausgesetzt die Öffentlichkeit merkt es nicht oder läßt sich darin agitierend oder moralisierend hinters Licht führen. Institutionalisierte Macht und Eigenmacht werden nur selten konsequent auseinandergehalten und ohne unerbittliche Kontrollen uneigennützig vertreten. Macht bedarf deswegen der Kontrollen, ein Supermacht muß sich im Inneren wenigstens noch selbst kontrollieren können, um Weltpolizei sein zu können.
Der Kategorische Imperativ einer Politik, die ethisch sein will, spezifiziert sich "in Wirklichkeit" als Freiheit, weil jeder verantwortliche Umgang mit der Macht im Dienst aller zuerst freie Selbstbestimmung wollen muß, bevor andere Gesichtspunkte ins Spiel kommen können: Sind die Subjekte der Politik nicht frei, können sie auch nicht verantwortlich wollen und handeln. Politik degeneriert dann zur Instrumentalisierung von Objekten im vorgeblichen Namen von Subjekten. Die Unfreiheit ist nicht nur der Anfang der Unwahrheit, sondern auch des Unfriedens.
Wenn analytisch a) Freiheit das kollektive Handlungsprinzip einer ethisch verfassten Politik sein muß, um diese überhaupt erst zu ermöglichen, muß es b) ein Minimum an Spielregeln geben, wenn es sich nicht dabei um die Freiheit des Dschungels handeln soll, muß c) eine Spielregelbestimmung durch Mehrheiten existieren, wenn nicht Minderheiten sich die Freiheit auf den eigenen Bauch zuschneiden sollen, muß d) ein Minimum an Kontrollen funktionieren, wenn nicht Mehrheiten ihre Rollen usurpieren wollen und schließlich e) die Wahrheit öffentlich eine Chance haben, wenn Kontrollen nicht angesichts der realen Umstände unwirksam sein sollen.
Eine ethisch-politische Verfassung muß deswegen a) prinzipiell die Idee der politischen Freiheit explizieren, wenn sie keine irgendwoher gottgegebene Diktatur sein will, b) eine Rechtsinstitution sein, wenn anarchistisches Chaos unterbunden werden soll, c) weiter eine Demokratie, wenn willkürlichen, autoritären Herrschaftszuständen vorgebeugt werden soll, d) sie muß ein republikanisches, d.h. gewaltenteiliges Regierungssystem besitzen, wenn scheindemokratische Zustände aufgedeckt werden wollen und schließlich e) eine aufgeklärte, kritische Öffentlichkeit favorisieren, damit das politische Leben totalitären geistigen Versuchungen gewachsen sein kann
Etablierte, d.h. umfassend akzeptierte Spielregeln sind die Grundvoraussetzung dafür, daß der Naturzustand der Gewaltherrschaft durch einen Kulturzustand der Verläßlichkeit so überwunden werden kann, daß Gesellschaft in einem geregelten Nebeneinander möglich ist. Ohne eine verläßliche Orientierungsbasis gibt es aber weder Kulturen noch Hochkulturen. Die Legitimationsfrage ist dabei die immer eindringlichere Problematik, die nach philosophischen Antworten ruft. Diese Antworten sind bis heute leider umstritten.
Eine verfassungsgemäße Herrschaft, die den Naturzustand überwunden hat und einen Kulturzustand repräsentiert, ist dann freiheitlich, wenn jeweilige Mehrheiten die Chancen haben, in Freiheit ihren Willen durchzusetzen. Die einzige Alternative wären autoritäre Regime, die möglicherweise Freiheit als Grundintention noch akzeptieren, auch rechtsstaatliche Regelungen im Zweifelsfall tolerieren, aber die machtpolitischen Zustände der Gegenwart noch nicht für reif halten, dem Volk die Herrschaft zu übertragen.
Eine ethische, republikanische und verfassungsmäßige Gewaltenteilung, die optimale Kontrolle eines Regierungssystems ermöglichen kann, muß neben der geläufigen Trennung von Exekutive, Legislative und Judikative der Vollständigkeit halber noch Volk und Öffentlichkeit miteinbeziehen, wenn vermieden werden soll, daß Kontrollen versagen, weil repräsentative Systeme sich auftragsvergessen verselbständigen (Parlamente versus Volk), oder weil parteipolitische Medien die Öffentlichkeit ideologisch instrumentalisieren (Medien versus Volk).
Damit Gewaltenteilung nicht nur auf dem Papier besteht, bedarf es einer wahhrheitskritischen Öffentlichkeit, die in allen gesellschaftlichen, aber auch herrschaftlich relevanten Bereichen das Argument zur Geltung bringen läßt. Ohne eine reflektierte Wahrheitskultur, (das haben spätestens die totalitären Zustände des zwanzigsten Jahrunderts gezeigt), gibt es keine Garantie für korrekte Regierungsabläufe, genausowenig wie für legale Herrschaft, legitime Herrschaftsausübung und die Einhaltung von Verfassungsprinzipien.
Eine reflektierte Wahrheitskultur aber ist nur möglich aufgrund eines reflektierten Orientierungswissens, das zu je seiner Zeit überzeugungs- und durchsetzungsfähig ist. In einem überzeugungsfähigen Orientierungswissen allein wurzelt eine konsensfähiges Verfassungsprinzip, von dem sich eine legale Verfassungspraxis ableiten kann, eine legitime, weil verfassungsgemäße Herrschaft, eine korrekte Regierungspraxis unter je unterschiedlicher Herrschaft und allem voran eine kritische Öffentlichkeit, die wahrheitsfähig Konsens stiften kann und behaaupten kann.