Pseudophilosophie

Kritisches Denken unterscheidet sich grundsätzlich vom unkritischen durch sein reflektiertes Wirklichkeitsverständnis. Unkritisches Denken hat entweder kein explizites Wirklichkeitsverständnis, und macht sich irgend etwas vor, wenn es "in Wirklichkeit" etwas meint, oder es verwechselt etwas Wirkliches mit der Wirklichkeit überhaupt, und produziert Dogmen. Die seinsbegriffliche Wirklichkeitslandkarte ist dabei das ideologiekritische Grundinstrumentarium par excellence: Kürzer und prägnanter als durch den Ausweis partikularbegrifflicher Verhaftung in Teilwirklichkeiten der seinsbegrifflichen Bildlandkarte läßt sich angemaßte Vorurteilslosigkeit nicht offenlegen.

Mit welchem Recht läßt sich denn überhaupt ein Urteil über Pseudophilosophie fällen?

Wenn nachweislich die Unwahrheit gesagt wird, wenn man sich selbst widerspricht, grundsätzlich nicht argumentiert oder wenn man nicht mehr zur Argumentation bereit ist, und trotzdem auf seinen allgemeinen Behauptungen bestehen bleibt. Natürlich repräsentiert, weil er sie lebt, auch eine Pseudophilosophie, wer garnichts behauptet und mehr oder weniger gedankenlos einer bestimmten Praxis folgt.

Wer gar nichts behauptet soll dabei auch einer Philosophie verpflichtet sein?

Sie wie niemand nicht nicht kommunizieren kann (Watzlawick), so kann auch niemand leben, ohne irgendetwas zu praktizieren, was der Verwirklichung von Gedanken entspricht, die wenigstens nachträglich noch mit umfassenderen Handlungskonzepten in Verbindung gebracht werden können. Jede Biographie ist auf diese Weise auch eine eine gelebte Philosophie.

Wie will man aber Unterstellungen von Pseudophilosophie allgemein belegen?

Der Aufweis ist natürlich immer konkret. Unwahrheit muß bewiesen , Selbstwidersprüche müssen gezeigt, Argumentationsabstinenz hinterfragt und Argumentationsverweigerung im besonderen Fall an den Pranger gestellt werden. Der Gedankenlosigkeit ist allerdings nur indirekt beizukommen, indem fehlende Rechtfertigungen erst einmal aufgedeckt und begründet werden. Der Angegriffene hat dabei stets die Chance, den Makel der Pseudophilosophie nachträglich los werden zu können.

Bei dieser breiten Palette an Gütekriterien bleibt aber von wahrer Philosophie nicht mehr viel übrig!

Wieso das? Wenn Argumente allein zählen, dann haben wir die wahre Philosophie. Wahre Philosophie kann in diesem Sinn jederzeit und von jeder Seite her verwirklicht werden.

Könnte sich denn aber nicht auch das Argumentieren selbst als Pseudophilosophie herausstellen?

Wenn nur zum Schein argumentiert wird, gewiß! Aber Argumente gegen das Argumentieren als letzte Instanz gibt es nicht.

Wieso gibt es keine Argumente gegen das Agumentieren?

Weil das zu einem Selbstwiderspruch führen würde. Es würden sich so ja dann doch die Argumente behaupten, nicht die Nichtargumente! Im übrigen wäre ein Schweigen innerhalb von Argumentation notwendigerweise ein beredetes Schweigen, mithin auch nicht nichtargumentativ.

Aber es gibt doch genügend Beispiele für Philosophieren, das auf Argumentation verzichtet.

Diese Beispiele sind aber keine Argumente gegen Argumentation. Wenn jemand nur unbegründete Thesen aufstellt oder nur Prophezeiungen ausspricht oder gar nur Gebote und Befehle verkündet, so wie Nietzsches Zarathustra, wenn er "mit dem Hammer" zu philosophieren beginnt, dann handelt es sich dabei zwar um Äußerungen, denen man bestimmte Bedeutungen beilegen kann, nicht aber um Meinungen, die Argumente transportieren.

Wieso sind nicht argumentative Äußerungen keine Meinungen?

Weil eine Äußerung nur dann auch einer Meinung entspricht, wenn sie notfalls auch gerechtfertigt werden kann. Die Äußerung "alle Polizisten müssen erschossen werden" ist noch keine Meinung, wenn nicht mit der Behauptung wenigstens implizit ein Grund dafür verbunden wird, warum das so sein soll.

Wer nicht argumentiert, hat also gar keine eigene Meinung?

Natürlich kann er eine haben, denn er könnte ja in unserem Fall die Auffassung vertreten, daß Polizisten grundsätzlich böse Lebewesen seien, die beseitigt werden müssen. Aber um diese Meinung argumentativ überzeugungskräftig zu vertreten, muß man sich seine seine Gemeinde gläubiger Zuhörer erst einmal suchen.

Wer nicht argumentiert, scheut also die eigene Meinung!

Er traut sich nicht, sie anderen gegenüber zu vertreten, weil er entweder an der eigenen Überzeugungskraft gegenüber anderen zweifelt, oder weil er selbst Zweifel an der Schlüssigkeit seiner Meinung hat.

Aber das kann dann doch trotzdem eine berechtigte Meinung sein, auch wenn sie nicht für jeden überzeugend ist!

Natürlich kann ich unter Verbrechern meine eigene Meinung zurückhalten, ohne daß damit diese Meinung selbst ihre Berechtigung verliert. Das Argumentationspostulat gilt ja nur in einer Gesprächsatmosphäre, die Argumente honoriert. Ich bin auch nicht verpflichtet, jedermann gegenüber zu jeder Zeit die ganze Wahrheit sagen zu müssen.

Aber man muß doch wahrhaftig sein!

Eben, wenn wir einmal davon absehen, daß natürlich auch hier Philosophen nicht fehlen dürfen, die, wie eine Simone Dietz, den Wert der Lüge preisen, und dabei gar nicht merken, daß ihnen dann auch dieses Lob niemand mehr glauben muß! Wahrheit muß subjektiv aber auch immer verantwortet werden, sonst kann man unversehens sehr taktlos, ja charakterlos werden.Verbrechern gegenüber brauche ich nicht das Versteck eines Opfers mitteilen, das sie suchen, auch wenn ich das Versteck kenne. Hier kann es sein, daß ich aus Wahrhaftigkeit vor mir selbst und dem Kategorischen Imperativ objektiv eine Unrichtigkeit sage, und dabei trotzdem nicht gegen die Wahrheit in letzter Instanz, d.h. als Unbedingtheit, verstoße.

Was heißt hier Wahrhaftigkeit gegenüber dem Kategorischen Imperativ?

Dem Kategorischen Imperativ gerecht zu werden! Dieser verlangt ja, daß wir in jeder Entscheidungssituation so verhalten, daß wir die Folgen und Nebenfolgen so verantworten können, daß ein Zweiter in der gleichen Situation ebenso handeln müßte, wenn er auch vorbildlich handeln will.

Das aber habe ich von Kant her noch anders in Erinnerung!

Das stimmt! Aber Kant die Situationsabhängivgkeit aller Entscheidungen des Kategorischen Imperativs zu wenig berücksichtigt, vor allem der ganz späte Kant scheint sie völlig vergessen zu haben, als er noch einmal betonte, man müsse immer und zu jeder Zeit "die Wahrheit" sagen. Da feheln die Differenzierungen! Wenn der Kategorische Imperativ im Sinne von Max Webers Verantwortungsethik interpretiert wird, verschwindet der mögliche Widerspruch. Von der Analytik der Seinsbegriffslandkarte her gedeutet kann es gar keinen Widerspruch geben.

Wahrheit ist also nicht nur die Richtigkeit von Aussagen?

Natürlich nicht. Sie muß auch subjektiv eine vor sich selbst und anderen verantwortbare Aussage sein, objektiv eine Übereinstimmung mit den erkennbaren Fakten und ereignishaft einer Gewißheit entsprechen, die irgendwie ausgewiesen oder bezeugt werden muß. Alles zusammen ist Wahrheit etwas Unbedingtes, das für sich steht und keinen bedingten Zwecken hörig gemacht werden kann:, Das ist es, was die Eigenständigekeit der Wahrheit ausmacht und von Heidegger so mißverständlich als "aletheia" beschworen wurde. Diese Unbedingtheit ist es, die leider alle nichtargumentativen Positionen mißachten.

Und Meinungen müssen als wahrhaftig gerechtfertigt werden, aber nicht immer?

Wir sprechen hier nur vom Philosophieren, und dazu gehört eine offene Gesprächsatmosphäre. Philosophieren und Argumentieren ist praktisch identisch!

Was heißt hier "praktisch identisch"? Wird hier nicht Philosophieren willkürlich definiert?

Das wäre nur dann der Fall, wenn Philosophieren mit Wahrheit nichts zu tun hätte. Dann könnte jeder einfach nur unverbindlich äußern, was ihm gerade zufällig in den Sinn kommt, und trotzdem dabei behaupten, er philosophiere.

Eine eigene Meinung zu haben hat also bestimmt etwas mit Wahrheit zu tun?

Das genau ist der Unterschied zwischen einer Äußerung und einer Meinung. Wenn ich nicht nur eine Äußerung von mir gebe, sondern eine eigene Meinung, dann verbinde ich damit einen Rechtfertigungsanspruch, der wahrhaftig einzulösen ist. Eine eigene Meinung unterstellt, daß das, was gemeint wird, auch wahr ist.

Aber ich kann mich ja über die Wahrheit im Irrtum befinden!

Natürlich handelt es sich in diesem Fall nur um die Wahrheit, so wie ich sie selbst subjektiv wahrhaftig verantworte. Niemand kann in allen Fällen immer ganz sicher sein, ob das, was er für die letzte Wahrheit hält, nicht nur die vorletzte, vorvorletzte usw ist.

Und wer nicht argumentiert, kümmert sich nicht um Wahrheit?

Eben! Wer zum Beispiel unbegründet behauptet, über das Unbewußte fänden wir den Weg zu Gott, dem ist egal, ob das wahr ist oder nicht, denn beweisen kann er seine Behauptung sowieso nicht. Er verlangt vom anderen lediglich, daß dieser daran glaubt. Wer aber für eigene Äußerungen als Behauptungen vom anderen einfach nur Glauben verlangt, setzt auf Manipualtion und Suggestion, im Zweifels- oder Konfliktsfall sogar auf psychische Gewalt. Diese liegt nahe, denn warum sollte man auch etwas glauben, was nur so daher gesagt wird?

Spekuliert demnach ein Ideologe auf Manipulation und Gewalt, statt auf Argumente?

In letzter Instanz könnte man das vielleicht in vielen Fällen nachweisen. Aber dazu müßte zuerst der Begriff "Ideologie" definiert werden. Zunächst einmal handelt es sich hier prinzipiell um den sendungsbewußten Irrationalisten, der im Zweifelsfall statt auf Argumente auf Manipulation und Gewalt setzen muß, weil die Ratio ja nicht seine Domäne ist. Ideologen dagegen haben oft vordergründig einen langen argumentativen Atem, weil sie ja vorgeblich rationale Positionen vertreten müssen, am Ende aber kommt dasselbe dabei heraus.

Dann ist der Ideologe ein Dogmatiker, der nur seine eigene Meinung mit Scheinargumenten durchsetzen will?

Der Dogmatiker mißbraucht in der Tat die Argumente, nur um seine eigene Meinung scheinhaft durchzusetzen, was sich aber in der Diskussion gewöhnlich schnell herausstellen wird. Der von ihm unterschiedene Ideologe dagegen hat einen längeren Atem, er wird sich nicht so schnell dabei erwischen lassen, nur seine eigene Meinung durchbringen zu wollen.

Dann handelt es sich um den Sophisten, der am Ende immer nur Recht haben will und Kriterien dabei beliebig wechselt?

Der Ideologe würde sogar zugeben, kein Sophist sein zu wollen, denn er behauptet ja, daß es Maßstäbe und Spelregeln für die Argumentation gibt, die eingehalten werden müssen. Er will ja diese Spielregeln für seine Position auch nützen!

Aber dann geht es dem Ideologen doch auch um die Wahrheit?

Eben nicht. Der Ideologe geht es nicht um die Wahrheit, weil er schon meint, die absolute Wahrheit zu besitzen und diese anderen in der Argumentation vorschreiben zu müssen. Religöse Fundamentalisten oder Marxisten etwa werden als Spielregeln der Argumentation nur bestimmte Fundamente der Bibel bzw. ein bestimmtes dialektisches Denken gelten lassen. Und deswegen stehen sie beide permanent unter dem Zwang, grundsätzliche Überzeugung in eigener Sache leisten zu müssen.

Warum argumentiert jemand nicht mehr, der meint, die absolute Wahrheit zu besitzen?

Er argumentiert schon, aber eben nur zum Schein. Denn wenn es hart auf hart geht, dann fallen zu irgend einem Zeitpunkt die Masken. Ich habe es 1989 einmal erlebt, wie kommunistische Funktionäre mit Schülern meiner Philosophischen Arbeitsgemeinschaft sich vorgeblich zu diskutieren bequemten. Als sie bei einem der Schüler mit ihren Belehrungen einfach keine Wirkung erzielten, wurde es irgendwann zu viel des Guten: "Du kapitalistisches Arschloch" hieß es plötzlich, und mit einem Schlag war die argumentative Grundhaltung verflogen. Die Diskussion wurde abrupt abgebrochen.

Aber sind wir dann nicht alle Ideologen, denn irgendwann wird doch jedem einmal das Gequatsche zu viel.

Ganz sicher kann jedem einmal alles zum Gequatsche werden, aber es muß dann eben tatsächlich Geqquatsche sein, und wer entscheidet das? In Diskussionsrunden erleben wir immer wieder den Zwischenruf: "Jetzt lassen sie mich einmal endlich ausreden, ich habe ihnen auch die ganze Zeit zugehört". Wie gnädig! Wer so spricht, gibt durch die Blume zum Ausdruck, daß es eigentlich eine Leistung war, zuzuhören, denn von der Sache her, das schwingt jedenfalls mit, war es eher eine Zumutung. Es gibt viele subtile Formen, etwasbeim anderen als Phraseologie zu indizieren und sich dabei selbst ins rechte Licht zu rücken.

Aber wer solche Zwischenrufe macht, ist doch noch kein Ideologe?

Natürlich nicht, es fiel mir auch eben nur so ein. Es paßt eher in die Gesprächsstrategie des Sophisten, sich geschäftsordnungsmäßiger Rituale zu bedienen. Der Ideologe wird vielleicht aus taktischen Gründen in dieser Form nicht einmal auffallen wollen und Komplimente statt Affronts bevorzugen, solange er sein strategisches Ziel noch nicht erreicht hat

Der Ideologe ist also in seiner Arumentation unwahrhaftig und gesprächsverweigernd?

Gesprächsverweigernd ist er im Konfliktsfall, dann nämlich, wenn er merkt, daß er mit seinem Anliegen keine Chance hat. Unabhängig davon kann er in Gesprächen sogar einen sehr langen Atem haben, solange sein Opfer noch nicht angebissen hat. Aber es ist ja immer der Konfliktsfall, in dem man entdeckt, mit wem man es eigentlich zu tun hat. Die Unwahrhaftigkeit des Ideologen resultiert aus seinem absoluten Wahrheitsanspruch, den es "in Wahrheit" nicht gibt.

Was heißt: Es gibt "in Wahrheit" keinen absoluten Wahrheitsanspruch?

Das heißt, daß der Wahrheitsbegriff selbstwidersprüchlich würde, wenn es diesen gäbe. Das Wort würde also nicht mehr "Wahrheit", sondern etwas anderes bedeuten, vielleicht etwas, das mit Unwahrheit mehr Gemeinsames hätte.

Aber wer entscheidet, daß der Wahrheitsbegriff selbstwidersprüchlich wird?

Das entscheidet die Bedeutungsanalyse von "Wahrheit" auf der Begriffsbildlandkarte. Wahrheit ist danach das Sosein der Identität. Um eine einzige Identität mit absoluter Sicherheit bestimmen zu können, bedarf es des Wissens von allen. Wer aber behaupten würde, er besitze das Wissen von allen auch nur denkbaren Identitäten, muß entweder die Diskussion abbrechen oder einfach lügen.

Wahrheit ist doch aber, wenn etwas Behauptetes auch stimmt! Was hat das mit "Sosein der Identität" zu tun?

Alles! Mit "Sosein der Identität" ist ja nur der weiteste Sinn gemeint, dem alle besonderen Aspekte der Wahrheit genügen müssen. In diesem Falle wäre das so: Wenn ich etwa behaupte, daß Zwei und Zwei Vier ist, oder daß es soeben regnet, dann stelle ich Behauptungen auf über Identitäten, im ersten Fall über eine formal definierte, im zweiten Fall über eine verifizierbare.

Aber warum kann ich nicht mit absoluter Sicherheit sagen, daß Zwei und Zwei vier ist, oder daß es jetzt regnet?

Es geht hier nur um das Wort "absolut". Das Wort "absolut" bezieht sich immer auf etwas Unbedingtes, und wenn wir von absoluter Wahrheit sprechen, meinen wir immer die Wahrheit über das Ganze, die Wirklichkeit selbst, alles Sein, den Glauben, das Jenseits usw. Daß Zwei und Zwei Vier ist, oder daß es jetzt regnet, ist keine absolute Wahrheit, sondern eine bedingte, die eine ist bedingt durch Festlegungen, die andere durch das Zeugnis der Beobachtung.

Über bedingte Wahrheiten können wir uns dann aber doch "absolut" sicher sein!

So gesehen jetzt ja, aber bei allem Bedingten gibt es eben Voraussetzungen, die erfüllt werden müssen, und diese Voraussetzungen schränken den Sinn ein. In der Mathematik sind es die Voraussetzungen des Zahlensystems, beim Regnen sind es die endlichen Wahrnehmungsfähigkeiten des Beobachters. Unter diesen Bedingungen sind beide Behauptungen hochgradig wahr möglich als das Sosein von bedingten Identitäten. Die absolute Wahrheit dagegen bezieht sich auf unbedingte Identität.

Unbedingte Identität ist doch die Summe von bedingten?

Aber als diese Summe eben nicht mehr bedingt einsehbar und deshalb auch nicht in den Prüfungsvoraussetzungen, die relative Gewißheit verschaffen könnten, explizierbar. Ich kann z.B. für unbedingte Identität nicht mehr das System angeben, durch das seine Formalitäten definiert sind, ich kann mich auch nicht auf direkte Beobachtung stützen, weil diese nur einen verschwindenden Moment, nicht die Ewigkeit festzuhalten vermag usw.

Wahrheit ist also in jedem Fall an Identitätsaussagen gebunden?

Was sonst? Wie sollte man anderenfalls entscheiden können, ob etwas wahr oder falsch ist? Als unbedingte Voraussetzung dafür, daß Wahrheit überhaupt möglich ist, muß zuerst Wirklichkeit als etwas Wirkliches, das "ist", bestimmbar werden, dann muß in einem zweiten Schritt diese Bestimmbarkeit als Sein intersubjektiv etwas Identisches bedeuten, und dann erst in einem dritten Schritt gibt es Wahrheit als das, was darüber entscheidet, ob dieses intersubjektiv behauptete Identische zutrifft oder nicht. Genau das meint die Wirklichkeitsdefinition "Sosein der Identität".

Wenn aber jemand eben doch auf einer anderen Wahrheitsdefinition bestünde?

Dann soll er sie nennen. Wenn sie sich als umfassender erweist, als "Wahrheit" auf der Begriffslandkarte, dann hat er einen großen Sieg errungen und alles, was hier über Wirklichkeit und Seinsbegriffe gesagt wird, hat eine gesunde Lektion bekommen. Aber wie sollte diese umfassendere Wahrheit überhaupt zustande kommen können?

Warum nicht? Dies auszuschließen hieße doch ebenfalls, die absolute Wahrheit besitzen zu wollen.

Da gibt es aber einen Unterschied. Wer sich im Besitz der absoluten Wahrheit wähnt, stellt diese selbst nicht mehr zur Diskussion. Das ist ja gerade das Dilemma des Ideologen, daß er seine eigene Basis nicht mehr hinterfragt. Auf der Begriffsbildlandkarte gibt es nichts, das nicht hinterfragbar wäre.

Aber es wird doch absolut behauptet, zu wissen, was Wahrheit ist?

Es ist doch aber ein Unterschied, ob man weiß, was man mit dem Wort "Wahrheit" meint, wenn man es gerbraucht, und ob man alles wahre Wissen zu besitzen beansprucht.

Aber auch bei dem, was ein Wort meint, kann man absolute Ansprüche stellen.

Nicht aber auf der Begriffsbildlandkarte. Wie Wahrheit dort definiert wird hat ja nichts mit absolutem Wissen zu tun, sonderm nur mit im einzelnen bedingtem und und deshalb auch vorläufigem, nur der Bezugspunkt "Wirklichkeit" ist unbedingt.

Die Begriffsbildlandkarte steht also selbst ständig zur Diskussion?

Im Prinzip ja. In der Praxis wird man natürlich nicht ständig nach der Korrektheit der Begriffsfindungen fragen. Was hätte es auch im Extremfall für einen Sinn, permanent die These von der Unhintergehbarkeit der Wirklichkeit hinterfragen zu wollen?

Wenn aber der vorgebliche Ideologe seine Grundlagen auch alle zur Diskussion stellt?

Das wäre dann der Idealfall, denn dann hörte er auf, Ideologe zu sein. Es wird sich dann in der Diskussion herausstellen können, welche Grundlagen die weiteren, die seiner eigenen Position oder die der Begriffsbildlandkarte.

An der Begriffsbildlandkarte gibt es also kein Vorbeikommen?

Solange sie nicht widerlegt ist, zugegeben nicht. Und von Theorien über die Wahrheit, wie sie heute allenthalben noch vertreten werden, kann sie gar nicht widerlegt werden, denn es geht ja um eine Wahrheit, die auch noch bei der Festlegung einer Wahrheitstheorie vorausgesetzt werden muß.

Wahrheitstheorien sind also gar keine Theorien der Wahrheit?

Genau! Es sind Theorien über bestimmte Wege, Identitäten festzustellen, aber keine Seinsbestimmungen von Wahrheit, die auch noch einer jeden Theorie vorauszugehen hätte, um deren Wert überhaupt erst bestimmen zu können. Positionen, die sich auf Wahrheitstheorien gründen, sind deswegen schon deshalb Ideologien, weil sie andere Wahrheitswege willkürlich ausschließen.

Dann sind also die meisten gegenwärtigen Philosophen immer noch Ideologen?

Indem sie sich ihre Arbeitsgebiete in Ressorts aufteilen und dann eben die anderen Ressorts entweder ignorieren oder bekämpfen, stimmt das leider. Wer etwa eine Redundanztheorie der Wahrheit vertritt, verabsolutiert die Logik, bei der Korrespondenztheorie sind es die Naturwissenschaften, bei dialektischen und hermeneutischen Theorien die Geisteswissenschaften, bei der Kohärenztheorie ist es die Semantik bzw. Zeichenphilosophie, bei der Diskurstheorie das kommunikative Verfahren, bei der Evidenztheorie die Phänomenologie oder Ästhetik, bei der Konenstheorie ist es die Gesellschaft, usw.

Und wann wäre dann aber die Begriffsbildlandkarte selbst widerlegt?

Wenn eine Position gefunden würde, die zwangslos weiter ist als die der Wirklichkeit. Dann würden die Seinsbegriffe der Wirklichkeit von dort her Sonderfälle und hörten auf, Musterfälle zu sein.

Da die Begriffsbildlandkarte ja noch unbekannt ist, müßte dann aber nicht alle bisherige Philosophie überhaupt Ideologie sein?

Nur dann, wenn sie zugleich auch die absolute Wahrheit für sich in Anspruch genommen hätte. Bei Verzicht auf die absolute Wahrheit und argumentativer Grundhaltung müßte ja im Prinzip vorausgesetzt werden kömnen, daß bei entsprechendem Diskursverlauf jederzeit die seinsbegriffliche Wirklichkeitsbasis prinzipiell hätte entdeckbar sein müssen.

Dann scheinen die Diskursverläufe bisheriger Philosophien nie korrekt gewesen zu sein?

Korrekt sollte man nicht sagen, denn das würde voraussetzen, daß klare Zielvorgaben bestanden, die verfehlt worden sind. Aber "konsequent" ist eine passende Antwort auf diese Frage. Es ist bisher tatsächlich noch nie ganz konsequent dem allerletzten Unbedingten nachgegangen worden.

Nachgegangen heißt aber noch nicht "nachgefragt"!

Ganz sicher haben fast alle Philosophen nach dem Allerletzten gefragt, beanspruchten jedenfalls, in dessen Namen zu argumentieren. Aber sie sind eben bisher verbal nie zum Allerletzten im Sinne des logisch Weitesten vorgedrungen, was nicht mit dem metaphysisch Tiefsten verwechselt werden darf. Denn intersubjektive Seinsbestimmungen sind ja noch keine Metaphysik, sie stellen dieser nur Bausteine zur Verfügung.

Dann hat es vielleich Metaphysiken gegeben, deren Tiefe von der Begrifffsbildlandkarte nicht bestritten wird?

Natürlich, denn die Begriffsbildlandkarte sagt ja gar nichts über Tiefe aus, sondern lediglich über die Weite des Sprachgebrauchs.Wenn bisherige Metaphysik offen in der Argumentation war und von ihren Voraussetzungen auch wahrhaftig, dann kann sie noch heute, wenn der geschichtliche Kontextmitgedacht wird, mit der Begriffsbildlandkarte vereinbar sein.

Gibt es dafür viele Beispiele?

Hier Beispiele zu nennen, wäre ein großes Wagnis, weil bisher tatsächlich noch keine Philosophie sich direkt auf Wirklichkeit bezogen hat, immer nur indirekt. Aber es genügt, daran zu erinnern, daß es nicht von ungefähr kommt, daß die Namen Platon und Kant überall präsent sind. Karl Jaspers hat zu diesen beiden auch noch Augustin als ganz großen Philosophen hinzugenommen, was möglich ist, wenn man den christlichen Kontext ganz streng einlammert und nur auf das achtet, was an Wirklchkeitsoffenheit im Medium des Offenbarungsglaubens spürbar wird. Aber eben: Dieses Relativieren ist nicht so einfach, wie das Relativieren der griechischen Naturdenkens bei Platon oder des Newtonschen Hintergrundwissenschaftsbildes bei Kant. .

War Aristoteles zum Beispiel ein Ideologe?

Aristoteles hat trotz seiner Abhängigkeit von Platon viel zu eigenständig und viel zu umfassend gedacht, als daß er dem hier vorausgesetzten Begriff eines Ideologen hätte entsprechen können. Aristoteles wäre wohl nie in den Sinn gekommen, bewußt Argumente zu manipulieren, den Diskurs diktatorisch abzubrechen oder gar gegen eine Wahrheit zu verstoßen, die er selbst definiert hatte. Diese Weite ist natürlich in den Nachfolgeschulen verlorengegangen, da gab es dann genügend Vertreter, deren geistige Enge an das herankam, was wir hier Ideologie nennen.

Aber Aristoteles hat doch die Wirklichkeit insgesamt mit der Natur gleichgesetzt.

Indem er es tat, blieb er doch für die ganze Wirklichkeit so weit offen, daß die anderen Bedeutungszugänge in das Naturdenken eingeflossen sind. Was dabei am Ende schließlich nur noch als Störung empfunden werden konnte, wurde als Aporie formuliert nicht totgeschwiegen, sondern als offene Frage im Raum stehen gelassen.

Bei Epikur etwa, in der Stoa, wirkt aber doch das Naturverständnis weniger tolerant gegen andere!

Wobei beim Epikuräismus zu bedenken ist, daß er stärker von Demokrits Atomismus denn von dem Naturdenken des Aristoteles beeinflußt worden ist. Aber auch bei diesen beiden Schulen kann man nicht davon ssprechen, daß sie sich im vermeintlichen Besitz der absoluten Wahrheit wähnten. Schon gar nicht berechtigt gewesen wäre ein solcher Einwand gegen Cicero. In der griechischen und römischen Antike gibt es so gesehen eigentlich noch gar keine Ideologie!

Von wann ab können wir dann von Ideologie überhaupt sprechen?

Da gibt es ein interessantes Datum, Apostelgeschichte 17, 16 ff: Paulus trifft in Athen auf "etliche Philosophen aber, Epikuräer und Stoiker, und stritt mit ihnen". Als Paulus den Griechen den einen unbekannten Gott predigt, "der die Welt gemacht hat und alles, was darinnen ist, , er, der ein Herr ist Himmels und der Erden", da kommt der Besitz der absoluten Wahrheit nach Griechenland und ins römische Reich.

Aber der israelitische Monotheismus ist doch noch viel älter!

Aber er blieb zunächst ein lokales Ereignis. Der älteste Monotheismus überhaupt ist der Sonnenkult des Pharao Echnaton, der vielleicht Modell für den mosaischen Gott vom Berg Sinai abgegeben hat. Natürlich kann man feststellen, daß der vermeintliche Besitz der absoluten Wahrheit mit der monotheistischen Jerusalemer Priesterherrschaft nach dem Babylonischen Exil mit großer Folgewirksamkeit in die Geschichte eingebrochen ist, aber eben nur das vorerst.

Glaubten sich die Jerusalemer Priester der Nachexilzeit vor Gott tatsächlich im Besitz der absoluten Wahrheit?

Im Alten Testament wird nicht argumentiert, lediglich Gottes Ratschluß erforscht. Und wenn dieser gar zu unverständlich war, dann erfolgte der Appell an den unbedingten Glauben, der sich laufend auf die Probe gestellt sah, man Denke an Isaaks Opferung, an Hiob oder die Psalmen. Es mußte ja nahezu unentwegt immer wieder neu begründet werden, warum es nun den Gerechten schlecht und den Ungerechten gut ging, obwohl doch Gottes Bund gelten sollte, nach dem der Gerechte belohnt, der Ungerechte bestraft werden wird!

Seit wann ist der wahre Glaube aber Ideologie?

Wenn man mit Sokrates weiß, was man weiß und was man nicht weiß, dann ist wahrer Glaube möglich und niemals Ideologie. Denn der wahre Glaube fängt ja da an, wo das wahre Wissen prinzipiell zu Ende geht. Wenn diese Trennungslinie aber nicht ganz scharf begriffen und eingehalten wird, haben wir es immer wieder mit Aberglauben zu tun.

Aber das Alte Testament steht doch selbst voll im Kampf gegen den Aberglauben?

Ja, gegen einen Aberglauebn, den die Jerusalemer Priester dafür hielten, weil ihr Gott Jahve von dort her in Frage gestellt wurde. Aber der Glaube an den Gott des Alten Testamentes ist selbst Aberglaube, weil viel zu viel dabei als vermeintlich gewußt unterstellt wird.

Aber das "Erste Gebot" heißt doch: "Mach Dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis"?

Eben, gegen dieses Gebot verstoßen ja die Texte das Alten Testamentes immer wieder mit Ausnahme ganz weniger Psalmen und Prophetenstellen. Das Gebot wird einfach nicht konsequent eingehalten, das Christentum ist dann noch viel inkonsequenter mit dem Glauben an Gottes Sohn und seiner Auferstehung. Der Islam hätte geschichtlich niemals so erfolgreich sein können, wenn diese Inkonsequenzen nicht als Skandal hätten angeprangert werden können.

Der Islam wäre dann wenigstens keine Ideologie?

Doch auch, trotz seiner größeren Konsequenz dem ersten Gebot gegenüber. Auch im Koran wird nicht argumentiert, eigentlich nur sinniert und kommandiert. Der Islam wähnt sich nicht weniger im Besitz der absoluten Wahrheit als das Alte und Neue Testament. Nur in der Vorstellung Gottes und bei Wundergeschichten ist er konsquenter.

Dann wäre also Religion überhaupt Ideologie?

Vorsicht! Monotheistische Religion tendiert dazu. In Asien aber sieht alles anders aus, auch wenn dort der Aberglaube andere Einfallstüren benutzt. Religion aber prinzipiell kann niemals Ideologie sein, wenn sie richtig begriffen wird.

Was aber ist richtig begriffene Religion?

Das, als was sie auf der Begriffslandkarte erscheint. Um wahrhaft religös zu sein, darf das religiöse Wissen nicht als vermeintliches unbedingtes Wissen der Wirklichkeit daherkommen.

Aber Religion ist doch immer vermeintliches unbedingtes Wissen!

Das eben ist das große Mißverständnis. Wahre Religion weiß, daß sie es mit der Transzendenz und dem Transintelligiblen zu tun hat, und verwechselt dieses Wissen nicht mit innerweltlichem .

Aber wie kann Religion sich vor Verwechslungen hüten?

Indem ihre Träger der Grundspannung des wissenden Nichtwissens konsequent und mit letzter Kraftanstrenung sich gewachsen zeigen. Genau das läßt sich auf der Begriffslandkarte gut übersichtlich darstellen.

Wie sähe diese Demonstration aus?

Religion darf Intersubjektivität nicht einfach ausklammern, sondern muß sich ihr stellen, wenn sie nicht zu einer privaten Erlösungsangelegenheit abgleiten oder in kollektives Sektierertum übergehen will, wenn solche private Welten einmal erst die Herrschaft über andere ergreifen.

Und wie kann Religion intersubjektiv sich behaupten, wo sie doch Glaubenssache ist?

Aber Glaubenssache heißt ja noch lange nicht Beliebigkeit! Indem die Bedeutungsebenen der Intersubjektivität der Reihe nach erkannt, beachtet und konsequent ausgehalten werde, kann Glauben so wahrhaftig verstanden werden, daß keiner grundsätzlich widersprechen muß.

Was sind diese Bedeutugsebenen genauer?

Es sind die die Begriffssynthesen von dem, was Intersubjektivität nacheinander "in Wahrheit" ist., nämlich Verständigung im weitesten Sinn, die einem faktischen oder gedachten, expliziten oder impliziten Diskurs folgt. Der sich öffnende Diskurs wird beim Grundsätzlichen zum Philosophieren, das sich zur Metaphysik gestaltet, wenn es über das Ganze der Wirklichkeit zu bestimmten Resultaten kommt. Diese Resultate aber haben es jetzt mit einem wissenden Nichtwissen zu tun, nicht mehr mit einer wissenden Gewißheit, und deswegen sind sie nur wahr, wenn sie gleichzeitig geistig mit bewußtem Transzendieren verbunden sind, in dem allein Glauben wahrhaftig, weil tolerant und bescheiden, bleiben kann. Wird dieser Glauben mystisch erfahren und erlebt, dann kann er sich zu einer kollektiven Macht ausbilden, die man dann "Religion" nennen kann!

Aber wer kann dann noch bei einer solch astronomisch hohen Anforderung jemals wahrhaft religiös sein?

Es ist richtig, daß es sich bei dieser Definition um eine Idealisierung handelt, der bisher vielleicht noch nie ein religiöser Mensch ganz gerecht geworden ist, der vielleicht keiner überhaupt jemals ganz gerecht werden kann. Aber trotzdem muß auf dem Ideal als Grenzwert bestanden werden, wenn Religion "in Wirklichkeit" so gedacht werden soll, daß sie nicht gegen die Wahrheit verstößt. Die Wahrheit selbst ist ja auch ein Ideal, dem vielleicht noch nie ein Mensch ganz rein sich gewachsen gezeigt hat. Wir wollen trotzdem, daß es auch weiterhin gilt, selbst wenn es prinzipiell für endliche Wesen - (der Christus des Paulus und Johannes war kein endliches Wesen!) - als normative Meßlatte unerreichbar ist.

Wenn das Religionsideal aber in so weite Ferne rückt, ist Religion nicht dann permanent in Ideologiegefahr?

Ganz gewiß, und weil das so ist, sollte das Ideal rein bleiben und deswegen ist ja das Toleranzgebot für jede Religion so wichtig! Die Menschenrechte sind ja nicht von der Religion hervorgebracht worden, sondern zum Schutz gegen sie. Mit dem Toleranzgebot fertig zu werden, ist keine leichte Aufgabe für Religionen, die immer noch meinen, der Wirklichkeit mit geoffenbartem Buchstabenwissen und normativen Dogmen über Welt und Weltenlauf die Stirn bieten zu dürfen. Hier ist die Ideologiekritik unaufhörlich gefordert, auch diese Voraussetzungen zu hinterfragen und gedanklich in die Schwebe (Jaspers) zu bringen. Jede Idealverwässerung würde dieser notwendigen Kritik den Boden entziehen.

Was heißt hier "gedanklich in die Schwebe bringen"?

Die Glaubensfundamente inhaltlich so zu interpretieren, daß sie nicht mehr mit objektivem Weltwissen konkurrieren und dann unweigerlich vor dem gesunden Menschenverstand den Kürzeren ziehen müssen, sondern sie als Chiffern nachvollziehbar und bewertbar zu machen. Nicht alle biblische Inhalte sind gleicherweise chiffernwürdig.

Wie kann man aber etwas Gewußtes als Chiffer erfahren?

Indem man seine Sinnvermittlung mitdenkt, so wie oben die Sinnvermittlungen von Religion überhaupt. Dann kann man sehr wohl nachvollziehen, was dieses Wissen einmnal für jene bedeutete, denen es einmal unmittelbar zugesagt wurde, ohne dabei zu vergessen, daß für die eigene Glaubenssituation ein gedanklicher Transfer geleistet werden muß, um einem entsprechenden angemssenen Niveau zu genügen.

Und was wäre das jeweils entsprechend angemessene Niveau?

Das offene und wahre Verhältnis zur Wirklichkeit, das wie gesagt nicht irreligiös sein muß oder gar resignativ, Wahres religöses Wissen wird von einer Grundspannung getragen, die wissendes Nichtwissen so aushält, daß der Glaube Erfüllung ist, ohne Wirklichkeiten auszugrenzen. Einer Ideologie fehlt definitorisch diese Offenheit, und deswegen ist jede faktische Ideologie auch normalerweise steril, selbstgenügsam und verständigungsfeindlich.

Aber es gibt heute doch eine Philosophie, die ausschließlich einer optimalen Verständigung dienen möchte!

Wenn es ihr ganz optimal gelingen würde, hätte sie sich selbst in Religion transformiert. Dazu wäre dann aber auch die Grundspannung auszuhalten, und das ist nicht Sache dieser erwähnten Philosophie. Sie ist eher selbst Ideologie, weil sie aus der Verständigung ihrerseits einen Fetisch macht.

Die gegenwärtigen Verständigungsphilosophien verständigen also nicht?

Sie spalten eher, weil dort immer noch Wirklichkeit mit Wahrheit verwechselt und Verständigung so handhabt wird, als sei alles Wirkliche nur noch als Resultat von Verständigungsprozessen zu begreifen. Man wird auf diese Weise weder den Wirklichkeitszugängen in ihrer ganzen Breite gerecht, noch kann man das Wesen der Verständigung selbst zureichend begreifen, weil diese es nicht allein mit Reglementierungen zu tun hat, sondern auch mit Erfahrungen, Inhalten usw.

Was aber heißt das: Wieso soll eine Verständigungsphilosophie denn Verständigung nicht begreifen können?

Weil sie Verständigung mit der ganzen Wirklichkeit verwechselt, kann sie nur Regeln der Verständigung aufstellen und übersieht dabei, daß die Verständigung "in Wirklichkeit" sich nicht im Diskurs erschöpft, sondern über das Philosophieren und Transzendieren eine ganz neue Dimension erreichen muß, um ihrer Sache gerecht werden zu können.. So gesehen muß die Verständigungshaltung im Blick auf die Sachen selbst sich langsam qualitativ transformieren können. Bleibt Verständigung das Non plus Ultra, dann geht allmählich die Verständigung durch Verständigung in die Brüche, sie scheitert an sich selbst.

Wieso soll Verständigung an sich selbst scheitern können?

Wenn die Inhalte nebensächlich werden und die Übereinstimmung von Meinungen alles ist, worauf es ankommt, dann wird unvermeidlich ausgegrenzt, wer neue Inhalte bringt und neue Fragen stellt. Die Gralshüter der Verständigung geraten dann in die Rolle von Funktionären, die entweder offiziell disqualifizieren müssen oder inoffiziell abdanken. Als Schultradition stehen sie sich nämlich dann selbst im Wege, müssen sie doch akzeptieren, daß entweder verständigend von außen gegen sie entschieden wird, oder von innen entscheidend man sich gegen sie verständigt. Weil in so einer Situation Argumente dann nicht mehr viel helfen, nur noch die Gewalt bleibt, haben wir es im Kern hier mit Ideologie zu tun.

Und was heißt, "der Verständigungsausgangspunkt transformiert sich"?

In dem Maße, wie sich die Verständigung der Wirklichkeit ganz unvereingenommen sich öffnet, zeigt sich allmählich vo nselbst, daß dr Verständigungszugang zur Wirklichkekit nur ein Zugang ist, nicht der einzige. Für Transzendieren und Glauben hat ein Jürgen Habermas z.B., unser einflußreichster Verständigungsphilosoph, bislang nicht viel übrig gehabt, Religion schien ihm eher ein notwendiger Gegenstand der Ideologiekritik denn ein legitimer Verständniszugang zur Wirklichkeit. In seiner Friedenspreisrede nun nach dem 11.09.01 kam dann doch für viele sehr überraschend ein ausdrückliches Toleranzangebot an die Religion zum Ausdruck.Er hat wohl inzwischen verstanden, wie hoch der Preis ist, Religion einfach aus der Diskusphilosophie ausgerenzen zu wollen. Um das aber seinen Anhängern vernünftig plausibel machen zu können, bedürfte es auch einer expliziten Weiterentwicklung des Diskursansatzes mit Blick auf Wirklichkeit.

Wird Habermas dazu in der Lage sein?

Das ist wohl eher unwahrscheinlich, denn dazu müßten allzu viele mit den Jahren lieb gewodene Dogmen über Bord geworfen werden, und vor allem Feindbilder verschwinden, die Habermas nun von Anfang an pflegt und von denen er auch heute offensichtlich immer noch nicht lassen will.

Was könnte man Habermas empfehlen?

Er sollte sich einmal die Begriffslandkarte anschauen und sich dabei vergegenwärtigen, wie viele Verabsolutierungen von Teilwirklichkeiten zur vermeintlichen ganzen Wirklichkeit tatsächlich möglich sind. Jede einzelne Begriffsbildstelle kann ja mit der ganzen Wirklichkeit aus Mißverstand verwechselt werden, und die meisten, vor allem der oberen Bedeutungsebenen, sind in der bisherigen Philosophiegeschichte so schon verwechselt worden. Was bedeutet demgegenüber das so stereotyp von Habermas gepflegte außschließliche Feindbild des libertären Konservativismus? Es gibt doch nicht nur die eine inhaltliche Ideologie, sondern unzählige!

Konservativismus ist also noch nicht für sich Ideologie?

Wie sollte er das, wir haben es hier bei Habermas noch mit dem anachronistischen Relikt der alten Frankfurter Schule zu tun, die einmal die Auffassung vertreten hatte, emanzipativer Neomarxismus wäre ein ideologiefreier Boden für eine konstruktive Ideologiekritik, die in der bestimmten Negation einen untrüglichen Kompaß besäße.

War dann der Neomarxismus die eigentliche Ideologie

Jeder "Ismus" ist Ideologie, je nachdem, wie ernst es mit ihm steht. Man kann sehr wohl konservativ sein, ohne einen Konservativismus zu vertreten und beim Neomarxismus ebenso. In diesem Fall aber brauchte der Neomarxismus den Konservativismus als Feind und dementsprechend wurde jeder Konervativer als Anhänger eines Konservativismus bekämpft, ob er das sein wollte, oder nicht. Der Ideologe ist hier also eindeutig der, welcher anderen Ideologie anhängt. Habermas tendiert heute noch in diese Richtung.

Es gibt also solche und solche Ismen?

Es gibt erklärte Ismen und solche, die konstruiert und anderen als Etiketten auf die Stirne geklebt werden. Ein Konervativer, ein Liberaler muß nicht unbedingt einen Ismus vertreten, aber wenn Ideologen ihm diesen Terminus anhängen,ist er schwer wieder los zu werden. Mit "Ismen" kann also auch gehörig manipuliert werden. Man denke nur an die unsägliche Kampagne gegen den Neoliberalismus von Leuten, die inzwischen stillschweigend selbst neoliberales Teufelszeug als Allheimittel anpreisen mit einer Chuzpe,so als seien die bisher Verketzerten rückständig! Im Namen eines "Modernismus" ist eben jeder rückständig, der für rückständig erklärt wird.

Liberale bekennen sich aber selbst zum Liberalismus, und "Ismus" bedeutet sprachlich immer eine Verabsolutierung!

Gewiß, und in diesem Sinn sollte redlicherweise Schluß sein mit allen "Ismen"! Im Alltag denkt ja sowieso kaum einer an die mit dem Wort verbundene Sinnverabsolutierung. Tatsächlich aber bedeuten Konservativismus, Liberalismus oder Sozialismus heute keine philosophische Grundanschauung mehr, sondern mehr oder weniger ausgeprägte programmatische politische Eckpunkte, wie sie sich bei allen Volksparteien finden. Stereotype Feindbilder lassen sich mit diesen Begriffen nur noch schwerlich verbinden oder erzeugen. Modernismus aber, zu dem sich der Neomarixsmus schließlich selbst ernannt hat, bleibt auch im Alltag Ideologie, weil seine Vertreter ohne veritables Feindbild schon definitorisch gar nicht auskommen können. Wenn gegenwärtig also überall Reformen angesagt sind, dann gewöhnlich gegen die Anhänger eines Modernismus, die unter "Moderne" ganz was anderes verstehen.

Aber auch in der Philosophie vertreten doch die meisten auch heute noch "Ismen"!

Ja, das ist, wenn man es recht bedenkt, ein Skandal, eine bodenlose Gedankenlosigkeit von Leuten, denen es weniger um die Sache denn um bestimmte Positionen und Aufmerksamkeitseffekte geht. Wirklich bedeutende Philosophen verkünden aber seit längerem keine "Ismen" mehr! Heidegger und Jaspers zum Beispiel haben sich bedeckt gehalten, als Jean Paul Sartre offiziell im Anschluß an sie mit einem Existenzialismus daher kam, ein Michel Foucault wollte nicht als Strukturalist gelten, ein Paul Watzlawick nicht als Radikaler Konstruktivist usw. Der Zwang zur Schulbildung an den Universitäteten ist wohl der Hauptgrund für die lange Lebenszeit der Ismen. Auch dort gibt es viele Mitläufer, die sich die Etikette eines Ismus einmal angehängen ließen, um unter deren Protektion die eigene Karriere überhaupt nur starten zu können.

"Realismus" und "Pragmatismus" sind aber gegenwärtig fast überall problemlos im Munde!

Weil sie so weite und unscharfe Begriffe geworden sind, daß beinahe jedermann sie folgenlos auf sich beziehen kann. Realismus heißt für die meisten ja eigentlich nur, die Wirklichkeit der Außenwelt ernst zu nehmen, und Pragmatismus, auf Dogmen verzichten zu wollen. Wörtlich genommen und von der Begriffslandkarte her gesehen aber sind diese beiden Begriffe einfach Mißverständnisse von Wirklichkeit.

Wieso sind Realismus und Pragmatismus genau genommen Mißverständnisse von Wirklichkeit?

Realismus suggeriert die ganze Wirklichkeit nur als das, was "in Wahrheit" die Welt ist, und Pragmatismus als das, als was sie handelnden Subjekten allein gegenüber tritt. Beides ist viel zu kurz gegriffen, die Wirklichkeit ist viel mehr als nur das, was von ihr uns etwa als Realität begegnet, und viel differenzierter, als dass sie uns lediglich als handelnde Subjekte beträfe: Wir sind doch auch noch denkende, fühlende und verantwortende Wesen, wenn wir handeln und entscheiden, und vor allem auch sind wir reflektierende Wesen, die nach dem Sinn des Ganzen fragen können.

Ist also einen "Ismus" ein mißverstandener, weil verabsolutierter Seinsbegriff der Wirklichkeit?

Jeder Seinsbegriff kann, zur vermeintlichen Wirklichkeit verabsolutiert, Träger eines Ismus werde:, Materie z.B. von Materialismus, Geschichte von Historismus, Erfahrung von Empirismus, Denken von Rationalismus, Situation von Dezisionismus usw. Der Aufzählung ist kein Ende, denn es muß ja nicht jeder Ismus bisher schon in der Geschichte aufgetreten sein, man kann ihn ja auch theoretisch konzpieren und abwarten, ob sich irgandwann einmal jemand doch noch zu ihm bekennt. An Absurditäten unter den bisher bekannten Ismen ist jedenfalls kein Mangel!

Entsprechend der seinsbegrifflichen Bildlankarte ließe sich dann auch eine Ideologiebildlandkarte entwerfen?

Gewiß, und diese Ideologiebildlandkarte böte einen systematischen Überblick über alle theoretisch mögliche Ideologien. Ideologiekritik könnte da eine brauchbare Handhabe finden.

Aber Ideologien sind doch nicht nur theoretische, sondern auch faktisch höcht lebendige Geistesgebilde!

Weil sie wirklich sind und wir es bei dem Sosein von Seinsbegriffen nur mit Abstraktionen zu tun haben, was immer wieder ins Gedächtnis zurückgerufen werden muß, um nicht neuerliche Mißverständniss zu produzieren. Auch das Gerüst wahrhaftiger Ideologiekritik ruht begrifflich nur auf dem, was Max Weber "Idealtypen" genannt hat, "Realtypen" gibt es nicht oder bezeichnen Seiendes, das auf der vierten Bedeutungsebene im Typischen empirisches Für-sich-sein anzeigt.

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HISTORISCHES:

I. Ursprung und Überblick

Pseudophilosophie ist zu allen Zeiten von offiziell anerkannter Philosophie genauso bekämpft worden wie Pseudoreligion von der etablierten. Gewaltsam ausgegrenzt wurden dabei auch oft solche, die später einmnal, selbst an die Hebel der Macht gekommen, ihrerseits die Ausgrenzungspraxis weiter betrieben, man denke nur an das Christentum und den Marxismus. In dem Maß, wie sich dabei in Verlauf der Philosophiegeschichte dogmatische Positionen und ideologische Wahrheitsansprüche selbsternannt zum Schiedsrichter für wahre und unwahre Philosophie aufwarfen, in dem Maße mußte natürlich dann auch der Maßstab für die Wahrheit seinerseits fragwürdig werden. Und dabei ging dann auch schleichend verloren, was bei der ersten Ausgrenzung von Pseudophilosophie überhaupt im Abendland noch voll ausgeprägt war: Der Wille zur Wahrheit. Als nach dem Tod des Sokrates Platon seinen Feldzug gegen dievon ihm stilisierten Sophisten eröffnete, ging es nämlich ausschließlich um Wahrheit. Platon insistierte gegen sie darauf, daß nicht jedes Mittel der Rhetorik recht sein kann, um im Diskurs zu obsiegen, sondern die Sachen selbst es sein muß, nach denen sich "wahr" und "falsch" entscheidet. Die von Platon apostrophierten Sophisten kannten noch keine endgültigen logischen Kriterien, hielten sich auch in der Praxis noch nicht an ausgearbeitet Regeln der Fairneß, und mußten deshalb mit dieser Grundhaltung auf konservative Gemüter weniger als erfrischende Repräsentatenten der Aufklärung denn als gefährlich desorientierende Elemente der Zersetzung Eindruck machen. So hatte bereits der konservative Komödienautor Aristophanes in seinen "Wolken" sogar den Sokrates selbst als nervenden Wortverdreher auf die Bühne gebracht, und nach dem von Athen gegen Sparta verlorenen Peleponnesischen Krieg mehrten sich die Stimmen, die dem hartnäckigen Hinterfragen von Traditionen und etablierten Verhaltensmaßstäben dafür eine Mitschuld zusprachen. In dieser Atmosphäre und mit entsprechenden Vorwürfen (Jugendverführung, Glauben an andere Götter) war im Jahre 399 Sokrates unschuldig von den Athener Bürgern zum Tode verurteilt worden, und Platon setzte nun seinerseits alle Hebel in Bewegung, dieses Mißverständnis aus der Welt zu schaffen und Sokrates vom Vorwurf, ein Sophist im negativen Sinn zu sein, frei zu sprechen. Indem er dabei den Begriff der Wahrheit als Kriterium einführte und Argumente als letzte Instanz allein noch gelten ließ, hat er die Ideologiekritik für alle Zeiten maßgebend nicht nur begründet, sondern auch beeinflußt. Der weitere Verlauf der Weltgeschichte hätte nicht diese abscheuliche Blutspur zeitigen müssen, wie sie sich dem rückblickenden, neutralen Betrachter offenbart, hätte sich Platon mit seinen anfänglichen Kriterien nicht nur im Denken der Philosophen, sondern auch noch im Handeln der Herrschenden durchgesetzt, was kein utopischer Gedanke sein muß. Denn im Unterschied zum christlichen Liebesgebot der Bergpredigt, dem nur wenige Sterbliche von Natur aus gewachsen sein konnten, handelt es sich hier um eine rationale geistige Einstellung, zu der jeder Vernünftige fähig ist, wäre nur die Überzeugungsarbeit dazu erst einmal gelungen.

Im Rückblick kann man wenigstens fünf neuerliche Anläufe der Aufklärung bilanzieren, nachdem sie in Griechenland zum ersten Mal den Durchbruch schaffte, dann aber spätestens vom Sieg des Chrstentums für viele Jahrhunderte wieder eingeholt worden war. Nachdem mit dem Ausgang des Mittelalters in der Renaissance (1) ein zweiter Anlauf gelungen war, wurde ihm von der Reformation schnell wieder das Lebenslicht ausgeblasen. Als dann nach dem Dreißigjärigen Krieg allenthalben in Europa und Nordamerika eine geistige Volksbewegung in Gang kam, die den Namen "Aufklärung" (2) nun explizit im Wappen trug, da machte am Ende der enttäuschende Augang der große Französische Revolution wieder einen dicken Strich durch die Rechnung. Einer auf das Fiasko reagierenden, reflexiv geläuterten deutschen Aufklärung im Anschluß an Kant und Goethe (3) war ein abrupter Abbruch beschieden, nachdem mit dem Deutschen Idealismus und seinen Ablegern der Ideologiebegriff entdeckt und gnadenlos von Gegnern, die ihrerseits nicht immer argumentieren wollten oder wahrhaftig waren, bekämpft wurde. Als um den Ersten Weltkrieg eine neuerliche Besinnung auf die Fundamente ideologischen Denkens vor allem den Namen Max Webers trug (4) , bereiteten diesem Ansatz Mißverständnisse von allen Seiten und die hereinbrechenden totalitären Bewegungen in Europa ein schnelles Ende. In der letzten Phase angelangt, nach dem grausamen Erwachen am Ende des Zweiten Weltkrieges plus Auschwitz und Atombombe, fühlten sich viele in eine Stunde Null versetzt und aufgerufen, ihren geistigen Beitrag zu leisten, um in erneuter Anknüpfung an die Grundsätze vor allem der Amerikanischen Revolution das Denken in der sogenannten Freien Welt zu erneuern und zu fundieren (5). Es bestand ein Konsens, daß sich so ein unsinniger Krieg niemals mehr wiederholen dürfe. Dieses freiheitliche Denken war zersplittert, aber es hat den Kalten Krieg überstanden und schließlich ihn sogar gewonnen. Die inneren Auseinandersetzungen aber gegen eine neuerliche Ideologiekritik, die sich auf lebensphilosophisches, neomarxistisches, psychoanalytisches, evolutionsbiologisches, sprachanalytisches oder systemtheoretisches Gedankengut stützte, hat es weitgehend verloren. Überall haben wir es deswegen heute mit Relikten dieser ideologiekritischen Revolte zu tun, die mehr oder weniger unverarbeitet ihr Eigenwesen treiben und ihrerseits nun eine freie Welt repräsentieren, die den Vorwurf des Ethnozentrismus mit zunehmend schlechterem Gewissen erleidet. Balkan- und Irakkrise haben gezeigt, wie hilflos dieses Denken selbst den drängendsten außenpolitischen Herausforderungen gegenübersteht. Wir befinden uns augenblicklich in einer Grundsituation, in der wieder einmal ein Neuanfang dringend fällig wäre.

Wir befinden uns im Augenblick in einer aktuellen geistigen Phase, in der das wahre Wirklichkeitsverständnis wieder einmal zu sich selbst finden muß, weil allenthalben nicht Argumente und Wahrheit das letzte Wort haben, sondern Ideologien und Parolen: Im Nietzscherausch huldigt eine sogenannte Postmoderne fast ausschließlich der ästhetischen Sinnlichkeit;, In der späten Nachfolge von Marx proben autonome Gruppen, ökologische Umweltbewegungen und Globalisierungsgegner aus den unterschiedlichsten Verweigerungshaltungen immer noch irgendwie die Revolutio; In der späten Nachfolge Freuds geben auch heute noch viele der Neigung nach, jeden Unbotmäßigen als neurotisiert zu hinterfragen, um ihn am Ende auf ein beliebiges Anpassungsverhalten hin therapieren zu können; Mit Darwin glauben wissenschaftsgläubige Menschen an nichts sonst als an die Evolution mit ihren biologischen Kategorie;, Viele vermeintliche Schüler Wittgensteins meinen immer noch, sprachanalytisch Argumente samt Wahrheit relativieren zu dürfen; Viele Anbeter der Kybernetik und Künstlichen Intelligenz halten sich mit Luhmann oder Minsky und Kurzweil für berechtigt, beim Verständnis der Wirklichkeit nur noch Informations- und Systemkategorien zu benutzen, und dann gibt es eine ganze Heerschar theoretischer Physiker und Astrophysiker, die auf der Jagd nach einer sogenannten Weltformel (theory of everything) "alles" deterministisch erklären wollen. In so einer Situation ist es höchste Zeit, daß die Aufklärung einen neuerlichen Anlauf nimmt. Der inzwischen in die Mode gekommene Neopragmatismus greift da zu kurz, wenn er etwa: a) mit einem Jürgen Habermas lediglich linkes Denken auf den neusten gesellschaftskritischen Stand bringen möchte, b) bei einem Hilary Putnam damit nur eine Neuanknüpfung an das Denken der klassischen US-Pragmatisten verbindet, an die US-Verfassungsväter und überhaupt die gewachsenen Traditionen einer funktionierenden Demokratie, oder gar c) bei einem Richard Rorty nur noch das Sichöffnen für eine unverbindliche Gesprächshaltung, der nicht einmal mehr Wahrheit als ein einlösbares Kriterium gilt. Das Folgende soll der hier getroffenen Einteilung der abendländischen Philosophiegeschichte in Schritten der Aufklärung und Gegenaufklärung zur näheren Erläuterung dienen.

Zusammenfassend lassen sich natürlich viele historische Überlegungen zu diesem philosophischen Abriß der abendländischen Kulturgeschichte anstellen. Dazu wird mehr bei "Geschichtswirklichkeit" nachzulesen sein. Zwei Fragen drängen sich hier aber doch auf: Was waren die historischen Zäsuren, die an der Wiege der jeweiligen Umbrüche standen? Und kann man so eine lange Epoche von Paulus bis zur Renaissance vorbehaltlos als eine Phase der Reaktion begreifen? Zunächst zu Punkt 1: Die erste Zäsur, die Machtübernahme des Christentums, kann man vielleicht allgemein mit dem Niedergang des Römischen Imperiums verbinden, die von den Zeitgenossen verarbeitet werden mußte. Die Heraufkunft Roms hat jedenfalls die Zäsur noch nicht bewirkt, denn in diesem Zusammenhang wurde die griechische Kultur noch fast sklavisch adapiert. Die zweite Zäsur, die Geburt der Renaissance, wird von dem Kulturhistoriker Egon Friedell mit der Erfahrung der Pest im 14. Jahrhundert in Verbindung gebracht. Das läßt sich nachvollziehen, mußte doch diese Katstrophe, die von den Zeitgenossen mit dem nahen Weltende in Verbindung gebracht wurde, nachdem diese aber ausblieb, wie ein unbegreiflicher Schock gewirkt haben.Warum es zur Reformation gekommen ist, kann man aber schwerlich an einem kollektiven Schockerlebnis festmachen, da werden wohl viele Kausalfaktoren zusammengewirkt haben. Eindeutig lokalisierbar sind aber wieder die restlichen folgenden Zäsuren: Dreißigjähriger Krieg, Französische Revolution, 1. Weltkrieg, 2. Weltkrieg. Bei Punkt 2) wäre darauf hinzuweisen, daß man unter der sogenannten Karolingischen Renaissance tatsächlich einen Neuanfang verstehen kann, der dann über Denker wie Eriugena, Anselm, Abälard usw zu einer neuen Unbefangenheit geführt hat, die erst mit dem Einsetzen der Inquisition und später mit der Dogmatisierung des thomistischen Aristotelismus erneut gestoppt wurde. Man könnte also durchaus von einem Neuanfang im neunten Jahrhundert sprechen. Aber das Ganze ist zu isoliert unter dden Gelehrten und alles in allem doch zu wenig frei gegenüber der grundsätzlichen Autorität des christlichen Dogmas, daß von einer Revolution der Wahrheit und der Argumente nur sehr bedingt gesprochen werden kann. Von einer emanzipativen kulturellen Bewegung kann man jedenfalls nicht sprechen,genausowenig, wie man schon bei dem Auftreten der späten Mystiker seit Meister Eckart von einer Nneubesinnung auf Wahrheit und Argumente sprechen kann: Der Protest hatte lokale Gründe und zeitgenössische Gegner, aber es war kein Protest, der ein herrschendes Denkparadigma, das Christentum, grundsätzlich in Frage gestellt hätte.

II. Ursprungskatastrophe

Mit dem Christentum siegte in der Antike schließlich eine absolute Wahrheit, die keine anderen Wahrheiten neben sich duldete und Argumente nur zur Verteidigung bzw Unterstützung dieser Wahrheit honorierte, im Zweifelsfall aber stets auch trotz der Bergpredigt zur Gewalt bereit war, nachdem einmal der Bund mit den weltlichen Herrschern geschlossen worden und man sich in der Konkurrenz mit diesen zu behaupten hatte. In der Kampfzeit bis zur Konstantinischen Bekehrung allerdings galt es aus der Defensive heraus, die Überlegenheit des christlihen Glaubens über die griechische Philosophie in freier Öffentlichkeit auch noch argumentativ zur Geltung zu bringen. Der jüdische Alexandriner Philon hatte fast zeitgleich mit Paulus schon zu zeigen versucht, daß die großen griechischen Philosophen "in Wahrheit" unbewußt schon den Gott entdeckt hatten und ihm huldigten, der lange zuvor Moses am Berg Sinai erschienen war. Die ersten prochristlichen Denker, Apologeten genannt, weil sie ihre Ausbildung noch auf dem Boden der griechischen Kultur genossen hatten und so noch in der Lage waren, auf diesem Felde auch argumentativ offensiv die neue Lehre zu vertreten, folgten konsequent dieser Linie, indem sie die Überlegenheit des christlichen Offenbarungsglaubens über das Philosophieren gleichsam metasprachlich zu begründen suchten: Den Philosophen war es danach nur möglich, gedanklich bis zu den Grenzen der Schöpfung vorzustoßen, d.h. bis zu jenen letzten Kategorien, die nicht mehr weiter abgeleitet werden konnten, so wie sie etwa Aristoteles expliziert hatte. Dem höheren Wissen aber des biblischen Offenbarungsglaubens wurden demgegenüber nun die Hintergrundinformationen über das Wesen der Schöpfung zugeschrieben, zu denen das noch ungläubige bloße Philosophieren allein nicht mehr vorzustoßen vermochte. Alles Wissen vor der zeitlichen Erscheinung von Jesus Christus war ein vorläufiges Wissen, das nach Römer 1 zwar über den indirekten Weg der Schöpfung auch schon wenigstens zur Anbetung Gottes hätte finden können, dem der direkte Weg zur Offennbarung aber noch verborgen war. Der Philosophie wurde in diesem Rahmen etwa von den großen Alexandrinischen Kirchenvätern Clemens und Origenes immerhin eine legitime weltorientierende Funktion bei der Wahrheitssuche zugesprochen, aber doch nur eine dienende. Denn die Quelle des Ursprungswissens war Gottes Wort, dessen Auslegung Sache der Theologie war.

Mit der flächendeckenden geistigen Machtergreifung dieser Theologie, mit ihrer dogmatischen Ausformung durch Augustin und der Festigung einer zentralistischen Kirchenhierarchie samt der damit einhergehenden Kanonisierung von Glaubenswahrheiten verschwand bald das prinzipiell bei den Apologeten noch gleichberechtigte Diskussionsforum, Unterwerfung war angesagt mit oder ohne Argumente. Zunächst galt es, die Barbaren zu christianisieren, dann den Islam abzuwehren, später ihn in Kreuzzügen zu attakieren sowie die abweichenden Meinungen der Ketzer im Inneren zu bekämpfen und schließlich im auslaufenden Mittelalter jene Heiden zu missionieren, die mit den neueren Entdeckungen der Seefahrt sich einer erstaunten europäischen Öffentlichkeit in scheinbar völliger Unschuld und Unwissenheit präsentierten. Der unvermeidliche theologische Diskurs selbst aber stieß immer wieder an die Grenzen jener Autoritäten und autoritären Gewalten, denen das letzte Wort über die Auslegung der Heiligen Wissenschaft zustand, Päpste, Kardinäle, Bischöfe, Konzilien und ihren Helfershelfern: Man denke nur an die Albigenserverfolgung, das Schicksal Abälards, die Schwierigkeiten eines Thomas von Aquin, die Verurteilung der aristotelischen Thesen durch den Bischof von Paris im Jahr 1277, die Ketzeranklage gegen Meister Eckhart oder die Verbrennung des Jan Hus auf dem Scheiterhaufen von Konstanz. Das heißt natürlich nicht, daß in dieser geistigen Atmosphäre nicht auch argumentiert worden wäre und die Wahrheit in bedingter Form nicht ihre Chance gehabt hätte: Auch im Mittelalter entwickelt sich ein philosophischer Diskurs und nach der umfassenden Rezeption des Aristoteles verselbständiget sich auch dieser Diskurs und wagte es gar ernsthaft, theologische Grundlagen in Frage zu stellen. Aber das Ganze lief doch immer noch am Gängelband der geistigen Machthaber, die ja in dem meisten Fällen auch als Bischöfe und Äbte die direkten Vorgesetzten der Diskursteilnehmer waren, und konnte im Konfliktsfall beliebig gestoppt werden.

III. Erster Neuanlauf: Renaissance

Nachdem bereits im späten Mittelalter mit der Rezeption des Aristoteles durch die Vermittlung des Islam weltliches und philosophisches Wissen gegenüber der Theologie langsam aufgewertet worden war- (man begann gleichsam zu entdecken, daß Gott mit der Schöpfung als solcher ein ebenfalls offenbares zweites Buch geschrieben hatte, dem seinerseits in Form von Naturgesetzlichkeiten göttliches Wissen aus zweiter Hand entnommen werden konnte) - kam es in der Renaissance, von Italien ausgehend, zu einem großartigen Befreiungsschlag für das Argument mit massenhaften Wiederentdeckungen, Neubegegnungen, Wiederaneignungen und Neuberwertungen der Antiken Tradition. Spätestens seit dem Fall von Konstantinopel konnten griechische Urquellen in bisher nicht bekannten Ausmaß wieder studiert werden. Überall machte sich eine lebendiges, distanzierteres Wissenwollen breit: In der Politik der städtischen Selbstverwaltungen (Florenz z.B.), dem aufblühendn Handel mit Ausweitung der Geldwirtschaft, der Wissenschaft mit zunehmender Ausweitung der Neugier und Aufwertung des Experiments , der Technik mit wachsender Indienstnahme wissenschaftlicher Entdeckungen und Erfindungen, dem Handwerk mit Spezialisierung und Perfektionierung und natürlich in der Seefahrt mit der unaufhaltsamen Eroberung des Globus. In dem Maße, wie fortschreitende Neuentdeckungen althergebrachte Traditionen und Lehrmeinungen in Frage stellten, in dem Maße mußte deren Autorität dann sinken. So war es mit der weltlichen Autorität des Aristoteles angesichts des Sturmlaufes der modernen Naturwissenschaft bald ganz vorbei, über das Zweite Buch Gottes informierte man sich immer weniger aus den alten Schriften, immer mehr durch direkte Beobachtung und ausgewiesene Kontrolle: In Galileis "Dialogo" von 1632 schließlich erscheint der Repräsentant der Aristotelischen Tradition nur noch als ein hoffnungslos Zurückgebliebener, der Schöpfer des Zweiten Offenbarungsbuches übrigens jetzt auch eher als maschinenkundiger Mathematiker und Geometer denn als stoffbeherrschender Gattungserzeuger und Lebensstifter. Die Erde hörte auf, Mittelpunkt der Welt zu sein und die Welt unmittelbar zu Gott, insofern der Himmel, seitdem im Jahre 1609 Galilei erstamls das Fernrohr auf ihn richtete, allmählich in die Forschung miteinbezogen wurde und damit langsam das Privileg verlor, als göttliche Qualität und überirdische Ordnung wahrgenommen zu werden. Mit alldem begann natürlich auch die Autorität der Bibel zu bröckeln, allerdings vorerst lediglich als Informationsquelle über die Welt. Die jenseitige Heilsbotschaft des Evangeliums stand noch nicht auf der Tagesordnung der Forscher, zmmal man sich noch ganz bewußt war, es lediglich mit der Entdeckung der Schöpfung zu tun zu haben, demgegenüber die Welt des Schöpfers weiterhin das legitime Sachgebiet der Theologen blieb: Selbst ein Newton respektierte noch voll diese Arbeitsteilung. Aber dieses Sachgebiet begann zweifelhafter zu werden und die Praktiken seiner Sachwalter büßten immer mehr an Glaubensauthetizität und moralischer Glaubwürdigkeit ein. Die Verweltlichung, d.h. Anpassung an die sich ausweitenden Gepflogenheiten des Geschäftslebens, die aufblühende ästhetische Kultur und die immer unverhohleneren politischen Machtinteressen auch des religiösen Standes schien nicht mehr aufzuhalten zu sein.

Doch das Wahrheitsmonopol war noch in den Händen der Theologen geblieben, und das sollte schreckliche Folgen für die Freiheit des Denkens haben, als Luthers Reformation zum Sturm auf diese drohende Verweltlichung des Glaubens bließ und ein unbedingtes Zurück zum Buchstabenglauben der Bibel forderte.Was das Quellenstudum und den Ruf "Zurück zu den Wurzeln" anbetraf war diese Bewegung selbst ein Kind der Renaissance und im Bund mit ihren großen Reformern von Erasmus von Rotterdam bis hin zu Philipp Melanchthon. Sie betrieb aber eine Erneuerung der Glaubenswahrheit ohne kritische Erneuerung der Glaubensfundamente: Dem Glauben an den paulinischen, augustinischen Jesus Christus als der absoluten Wahrheit war alles andere unterzuordnen. Zum Schiedsrichter über die Korrektheit dieses Glaubens wurde zwar der Einzelne bestimmt, was aber in letzte Instanz inkonsequent blieb, da im Konfliktsfall stets die großen Glaubensführer das letzte Wort hatten, zumal an den verwaltungsmäßigen Fundamenten der Kirche nicht gerüttelt wurde, weil man lediglich den Zentralismus lockerte sowie das Meinungsmonopol von Papst und Konzilien abschaffte. Diese erklärte Erneuerung des Glaubens war also von Anfang an ambivalent: Einerseits kam es überall zur Neubelebung der Frömmigkeit, andereseits drohte das religiöse Chaos mit ständigen gewaltsamen Auseinandersetzungen. Insofern die Reformation das argumentative Recht des Individuums gegenüber kirchlicher und traditioneller Bevormundung des eigenen Glaubens dabei betonte und bekräftigte, war auch sie ein Kind der Renaissance und auf der Seite jener, die das Recht des Einzelnen auf Wahrheit anerkannten: Ein Zurück zur mittelalterlichen Vormundschaftsgesellschaft war nicht angesagt. Auch wurden die weltlichen emanzipativen Errungenschaften der Renaissance nicht angetastet, mit der neuerlichen Aufwertung des Berufsdenkens (vor allem im Calvinismus) gegenüber dem abgeschiedenen Klosterdasein eher noch zusätzlich aufgewertet. Aber die Erneuerung das absoluten Wahrheitsanspruches eines einzigen, angeblich richtig verstandenen geoffenbarten Glaubens war doch so unheilvoll, daß gegen den möglichen Mißbrauch durch geistige und weltliche Machthaber fast kein Kraut gewachsen war. Die so in Gang gesetzte wechselseitige Aufrüstung von Protestantentum und Gegenreformation im jeweiligen Namen des richtig verstandenen Gottes ließ sich erst wieder beruhigen, nachdem halb Mitteleuropa im Dreißigjährigen Krieg in Schutt und Asche lagen. Dieses Ende war so schrecklich, daß es allenthalben zu denken gab: So konnte es nicht weiter gehen. Die immer selbstbewußter wderdenden Naturwissenschaften hatten gezeigt, daß Gottes Zweitem Buch, der Schöpfung, sehr viel mehr verläßliche Fingerzeige entnommen werden konnten, als jemals zuvor vermutet. Es begann das, was wir das eigentliche große Zeitalter der Aufklärung zu bezeichnen gelernt haben.

IV. Zweiter Neuanlauf: Moderne Aufklärung

Nachdem Ludwig der XIV. mit seinen barbarischen Feldzügen am Rhein noch einmal demonstriert hatte, wohin ein allerchristlichstes Denken führen kann, wenn es nur noch als Vorwand für persönlichen Egoismus und politische Machterweiterung herhalten muß, machten sich nun Leidtragende gleich wie Untertanen und Gegner im Zeichen einer endlich modernen Aufklärung daran, die Lehren aus dem Scheitern der Renaissance zu ziehen. Politische Denker, von Grotius, Hobbes, Locke und Montesquieu bis hin zu den Verfassern der ersten öffentlich proklamierten Menschenrechte und Vätern der Amerikanischen Revolution suchten nach den Bedingungen für dauerhaften Frieden durch freiheitlich demokratische Ordnungen und Völkerrecht. Sie konnten sich dabei auf Lehren stützen, die inzwischen in vielen unterschiedlichen Fassungen vorlagen, sei es aus den Schwierigkeiten der attischen Demokratie als Herrschaftssystem, der Erfolgsgeschichte der Römischen Republik als Regierungssystem oder der Herausbildung von Freiheitssicherungen durch Gewaltenteilung im englischen Parlamentarismus. Das wissenschaftliche Denken wurde, (im Blick auf Newton von cartesischer Metaphysik befreit), auf eine eigenständige Grundlage gestellt, auf neue Gebiete ausgeweitet und gegen überkommene Vorurteile argumentativ in Stellung gebracht. Von Montaigne und Pierre Bayle angefangen bis hin zu Voltaire und Diderot suchte philosophisches Denken immer praktischer zu werden, nützliches Wissen unter die Zeitgenossen zu bringen, auf sittliche, rechtliche und politische Mißstände aufmerksam zu machen und allgemein zu deren Abhilfe zu ermutigen. In allen Lebensbereichen wurde das Argument rehabilitiert, indem man der Vernunft ein legitimes Eigenrecht zusprach. Öffentliche Kritik wurde jetzt zur Institution, Journalisten, Publizisten, Schriftsteller und Dichter schlossen sich zusammen, um massenhaft aufzuklären und begriffen diese Aufgabe als Dienst am Volk. Die von Diderot und D'Alembert herausgegebene große Enzyklopädie durfte zu ihren Mitarbeitern die besten Köpfe der Zeit zählen und setzte sich kein geringeres Ziel als das gesamte Wissen eines Jahrhunderts, des Jahrhunderts der Aufklärung, zur Darstellung zu bringen. Überall machte sich das neue Denken auch an den Höfen bemerkbar, allen voran verstand sich Friedrich der II. in Preußen als gekröntes Aushängeschild dieser Bewegung und wurde von ihr auch gleichsam als endlich wiedergeborener Marc Aurel und sehentlich erwarteter Philosophenkönig begeistert gefeiert. Frankreich, dessen Intellektuelle unter der perennierenden absoluten Monarchie besonders litten, von dieser aber auch machtpolitisch in exponierter Position profitierten, wurde dabei zum entschiedenen theoretischen Wortführer. Nirgendwo sonst ging man so weit mit der Religionskritik, wurden die Gegensätze so zugespitzt und missionarisch überhöht, schoß man aber auch so über das gesteckte Ziel hinaus, wie etwa ein Jean Jaque Rousseau, dessen ressentimentgeladene Gesellschaftskritik sehr bald als ein Revolutionsaufruf im Namen des Fortschritts gegen liberalen Sittenverfall von Zivilisation überhaupt, ökonomische Ungerechtigkeit einer bürgerlichen Gesellschaft und politische Willkür der Herrschenden verstanden werden konnte.

Um einer dadurch auslösbaren Eigendynamik gewachsen sein zu können, war die philosophische Argumentationsbasis der Epoche noch entschieden zu schmal: So wie der Fortschritt für die einen zum Fetisch zu werden begann, so mehrten sich die Stimmen, ihn zu verdammen. Die Kluft zwischen Fortschrittsenthousiasten und Fortschrittsskeptikern mußte in dem Maße auch wieder die religiösen Dimensionen annehmen, die man eigentlich längst hinter sich gelassen haben wollte, in dem die Geschichte als gleichsam nun Drittes Buch Gottes ab Mitte des Jahrhunderts sich dem aufgeklärten Bewußtsein immer stärker aufzudrängen begann. Dieses Dritte Buch war aber im Unterschied zu den beiden anderen Büchern noch nicht vollendet, zu seinerVollendung durften sich vielmehr alle aufgrufen fühlen, ihren Teil beizutragen, so wie ein Adam Smith etwa, der in seinem "Wealth of nations" nicht nur die Volkswirtschaftslehre begründete, sondern auch als erster den Finger Gottes in der Wirtschaftsgeschichte ausfindig zu machen sich traute. Die Zeit war noch nicht reif, argumentativ sachlich über die Bedingungen der Möglichkeit gleich wie die Grenzen geschichtlichen Fortschrittes zu reflektieren, statt dessen folgte man den Fahnen des Fortschritts gegen die rückständigen Bewahrer, oder man verteidigte die Festung des Bewährten gegen die frevelhaften Zerstörer. In einem beispielhaften Literatenstreit Ende des siebzehnten Jahrhunderts um die von Frankreichs Klassikern eingeforderte ästhetische Vorbildhaftigkeit antiker Autoren für die Aufklärung wurden folgenreich für das Kommende die Fronten programmatisch vorgegeben: In dem sogenannten "Querelle des anciens et des modernes" formierten sich Progressive um Perrault und Fontenelle, den langlebigen Sekretär der Akademie Fontenelle, und Konservative um Boileau und die meisten der damaligen sogenannten Klassiker, wie Racine, La Fontaine, L Bryère usw zu sich radikalisierenden geschlossenen Lagern, zwischen denen die Verständigung immer schwieriger wurde, um endlich gänzlich abzubrechen, als die Rousseauisten, inzwischen zu Jakobinern mutiert, sich bei den Modernisten einzureihen begannen, um den Worten auch Taten folgen zu lassen. Mit sogenannten Konervativen wurde man von dort her nun immer schneller fertig als jenen ewig Gestrigen, die am Althergebrachten festhaltend sich jedem wissenschaftlichen, technischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen aber damit auchangeblich moralischen Fortschritt als dem notwendigen Gang der Geschichte in den Weg stellten. Und dieser Gegner legitimierte sich allenthalben noch durch ein Christentum, das weiterhin auf seinem Monopolanspruch der Wahrheit bestand, um schließlich doch noch einen, wenn auch diesmal nur kurzatmigen späten Triumph feiern zu dürfen: Weil es der organisierten Aufklärungsbewegung des anchzehnten Jahrhunderts nicht gelungen war, Wahrheit "in Wirklichkeit" so zu begreifen, so daß auch die religiöse Wahrheit dabei noch ihren legitimen Platz finden konnte, wuchs die Spannung zwischen den Bewahrungs- und Fortschrittsanhängern bald ins Unermessliche.

Indem die Fotschrittsprotagonisten Wissenschaft auch immer mehr als Gegeninstanz zur Religion verstanden, (sich im Bunde mit dem Schöpfer des Dritten Buches wähnend), statt als deren komplimentäres Wissen, und indem sich ihnen Kritik unter der Hand immer mehr zu einer destruktiven Waffe gegen alles traditionell Wertbeständige verengte, statt konstruktiv abwägend Bewährtes gleicherweise wie das Neue auf den Prüfstand zu stellen, verhärteten sich die Fronten. Die Jakobinerherrschaft im Namen Rousseaus gegen Christentum und Traditionalität wurde möglich! Es sah bald so aus, als gälte es im Namen des Fortschrittes alle Sicherheiten und moralischen Grundlagen der Gesellschaft über Bord zu werfen. Als dann die Spannung im Terror der Großen Französichen Revolution sich endlich entlud und einem Ausgang entgegenstrebte, der noch desaströser war als ihn schon immer die Konervativen vorausgesagt hatten, da erzeugte das einen kollektiven Bildungsschock, wie es ihn in so einem gedrängten Augenblick weltweit noch nie gegeben hatte. Die Jakbiner wurden für den Normalbürger zum Inbegriff des gesetzlosen Bösen, ihre Identifikation mit der Aufklärung überhaupt war Wasser auf die Mühlen der Gegenaufklärung. Allenthalben machten sich die Gebildeten in Europa daran, diesen Schlag zu verarbeiten und den Restbestand der sogenannten revolutionären Errungenschaften, und was nach Napleon noch davon übrig geblieben war, zu sichten. Der normale Weg war das Verdrängen, und das führte in den angelsächischen Ländern, durch empirische Philosophie gestärkt, eher in den geschäftigen Alltag des Kapitalismus, der technischen Zivilisation und der emanzipativen Öffentlichkeit: In den USA war man damit beschäftigt, die Ideale der eigenen bürgerlichen Revolution durch das Fiasko der Jakobiner nicht in Mitleidenschaft ziehen zu lassen, in England beschwor ein Edmund Burke bald die Tugenden eines Konservativismus, der nicht unbedingt im Widerspruch zu gesellschaftlichem Fortschritt begriffen werden mußte. In beiden Ländern machte sich aber auch geistig sehr bald der Wind bemerkbar, der vom Kontinent herüberwehte, und deutlich resignativere Züge trug. Vor allem in Deutschland hatte politisch die Restauration gesiegt und einer bürgerlichen Privatheit zum "biedermeierlichen" Kultstatus verholfen. Kulturell reagierte der Kontinent auf den Ausgang der Französischen Revolution im großen Stil in einer Wende zur Romantik, in der brutale Gleichmacherei durch Verherrlichung von Familie, Landleben und Heimat überwunden und Fortschrittsdenken durch Vergangenheitsschwärmerei wie die Sehnsucht nach den Ursprüngen ersetzt wurde. Das Dritte Buch Gottes wurde jetzt nostalgisch gelesen, kritische Argumente bedurften einer Rechtfertigung vom Althergebrachten her, Wirklichkeit rückte in die Nähe mythisch verschleierter Geheimnisse und Wahrheit in die von märchenhafter Kunde. Zu den Gedankenauslösern dieser romantischen Bewegung gehörte aber auch schon neben der Pariser Geschichtskatastrophe eine neue Geisteshaltung, die ihrerseits die eigenen nichtresignativen Lehren aus dem Zusammenbruch des Aufklärungsoptimismus gezogen hatte. Anstatt im "Querelle des anciens et des modernes" sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen, hatte diese Geistehaltung ihr "Weder noch" angemeldet, um erneut unvoreingenommen auf Argumentation und Wahrheit zu setzen: Im Anschluß an Kant, Goethe und Schiller versuchte der sogenannte Deutsche Humanismu Tradition und Fortschritt in einem neuen Ethos zu versöhnen.

V. Dritter Neuanlauf: Deutscher Humanismus

In Kants Transzendentalphilosophie war die Aufklärung reflexiv zu sich selbst gekommen, der Wissenschaftsaberglaube seiner Defizite überführt, und die Bedingungen der Möglichkeit von Frieden in Freiheit zu Ende gedacht worden: Von dort her hätte die große Französische Revolution einen anderen Ausgang nehmen können. Aber Kant war den Jakobinern noch unbekannt und Rousseau damals der Philosoph der Stunde. Unter Kants Einfluß aber konnte sich in direkter Reaktion auf die Pariser Ereignisse eine denkerische Macht entfalten, die den Argumenten wieder Selbstvertrauen einflößte und das neuerliche Wagnis auf sich nahm, der Wahrheit frei von religiöser Bevormundung oder wissenschaftlicher Einseitigkeit in die Augen zu sehen: Der sogenannte deutsche Humanismus im Umfeld von Goethes und Schillers Weimar. Ohne den Errungenschaften der Aufklärung eine Absage zu erteilen weigerte sich dieser, von dort her doch auch alles Heil zu erwarten. Mit der Renaissance wandte er sich wieder neu der griechischen Antike zu, um dort einem freien Geist als zeitlosem Vorbild für menschliches Maß und Bildung zu huldigen, der kreative Kräfte entbinden, sittliches Bewußtsein tragen und gesellschaftliches Engagement motivieren können sollte. Von Kants unabhängiger Urteilskraft direkt ermuntert setzte sich Friedrich Schiller in seinen Briefen "Über die ästhetische Erziehung des Menschen" schon 1795 mit Fehlern der Französischen Revolution auseinander und entdeckte dabei ein defizitäres Menschenbild. Für ihn war klar, daß jede Gesellschaftsrevolution scheitern muß, die nicht zuerst beim Ethos und der ästhetischen Bildung des Einzelnen ansetzt, es galt also zuerst den Geist zu schaffen, der einer wahrhaften Revolution allererst gewachsen sein konnt, und dann erst zur politischen Tat zu schreiten. Dazu war mit Goethes "Wilhelm Meister" ein Bildungsroman exemplarisch im Werden, der die Entfaltung einer sittlichen Persönlichkeit in Auseinandersetzung mit der seit Winckelmann und Lessing so idealisiert tradierten Kultur der Griechen nachzeichnete, daß Platons Ideen des Guten, Wahren und Schönen gleichsam ineins als eine geballte geistige Bildungsmacht eine ästhetische Aura erzeugen , erzieherische Wirksamkeit entfalten und seelische Läuterung bewirken konnten. Die eindrucksvolle Persönlichkeit Goethes mit ihrem originären Werdegang und unverdächtigen Sozialstatus war für sich schon eine geistige Autorität, an der sich schwankende Gestalten aufrichten und der Aufklärung treu bleiben konnten, ohne deswegen schon als Jakobiner verdächtig werden noch gar als Atheisten Anstoß erregen zu müssen. Mit Goethe schien das Freiheitsgefühl der Renaissance und das Fortschrittsdenken der modernen Aufklärer in Orientierung an zeitlosen praktischen und ästhetischen Maßstäben der Antike endlich miteinander vereinbar geworden zu sein.

Mit dem Leitbegriff der von Goethe gepriesenen Persönlichkeit glaubte man ein Ideal zu besitzen, an dessen Orientierung Aufklärung von weiteren Irrwegen bewahrt und das Wertbeständige einen bleibenden verantwortbaren Sinn bekommen konnte. Mit der Kennzeichnung dieser Geisteshaltung als Klassik fand man sein vergleichbares Selbstverständnis im Blick auf andere Geistesepochen und in der universalen Weite des ethischen und ästhetischen Verstehenkönnens sein unverwechselbares neues Lebensgefühl. Vor allem die Geisteswissenschaften haben so neue Impulse bekommen, von Herder initiiert über Schleiermacher bis zu Wilhlem von Humboldt wurde erstmals in großem Stil das Verstehen von Sprachen, Texten und fremden Kulturen ein ernsthaftes wissenschaftliches Thema. Die Humboldtsche Bildungsreform in Preußen hat den Geist des Deutschen Humanismus zu einem Markenzeichen deutscher Universitäten und Gymnasien für das ganze folgende Jahrhundert gemacht, nicht aber verhindern können, daß die lebendigen Wurzeln dieses Ansatzes im Nachfolgenden Institutionalisierungsprozeß sehr bald abgestorben sind, um entweder dem organisierten Wahn neuerlicher Wissensanmaßungen zu verfallen oder dem gepflegten Traditionskult eines Epigonentums, dem Heldenverehrung näher lag als argumentative Wahrhaftigkeit. Der späte Goethekult des deutschen Bildungsbürgers, der sich so verblasen vor dem Ersten Weltkrieg erwiesen hatte wie widerstandsunfähig vor dem Zweiten Weltkrieg, war jedenfalls nur noch eine Charikatur dessen, was die Dioskuren einmal selbst gesitig verkörperten und weiterzugeben suchten. Daß der Deutsche Humanismus als lebendiger Geist nur kurze Episode blieb, hatte viele Gründe, auch solche der eigenen Konsequenz. Ein neuerlicher Rückfall in religiöse Intoleranz war jetzt zwar nicht mehr zu befürcheten, dazu waren Wissenschaft und Bildung inzwischen zu weit fortgeschritte. Was aber nicht verhindert werden konnte, waren Mißverständisse in den philosophischen Grundlagen, die noch keinesfalls widerspruchsfrei geklärt waren, aber auch neue Entdeckungen im gesellschaftlichen Wirklichkeitsverständnis, die ihrerseits Mißverständnisse provozierten und neue Probleme schufen, was sehr bald in eine geistige Atmosphäre ausmündete, die nur noch wenig von der freien Luft der antiken Ideale zurückbehielt, die einmal einen Goethe oder Schiller beseelten.

Was die neuen Probleme im Wirklichkeitsverständnis betraf, so wurden sie durch den gesellschaftlichen Wandel produziert, mit der langsamen Heraufkunft der Industriegesellschaft und der damit verbundenen bis dahin noch unbekannten sozialen Fragen. Was die Mißverständnisse betraf, so wurde Kants Denken sehr schnell verwässert oder verengt interpretiert, um schließlich im Deutschen Idealismus seine argumentative und wahrhaftige Basis ganz preiszugeben. Das so spätestens seit Fichte geläufig werdende identitätsphilosophische Wirklichkeitsverständnis war dogmatisch und konnte leicht wieder sowohl als fortschrittsfreundlicher Jakobinismus, so bei Fichte, oder als fortschrittsfeindliche Herrschaftsideologie im Dienst der Restauration, so bei Hegel und Schelling, angegriffen werden. Da außerdem Wahrheit immer noch nicht zureichend begriffen wurde, man sich zugleich aber spätestens seit Fichte der entdeckten Geschichte inzwischen so bemächtigt hatte, um im guten Glauben sich dem Dritten Buch Gottes nun auch theoretisch gewachsen zu fühlen, (indem man nicht nur wie weiland Adam Smith mit einem hypothetischen Zipfel sich zufrieden geben wollte, sondern den ganzen Konstruktionsplan zu durchschauen behauptete), kam es zu einem angemaßten geschichtlichen Zeitbewußtsein, das statt Argumente, Widerspruch und Polemik provozieren mußte. Dabei machte sich verhängnisvoll bemerkbar, daß Wissenschaft auch von den Klassikern noch lange nicht zureichend verstanden worden war, - (Goethe begriff sich selbst bekanntlich noch als unerbittlicher Gegner Newtons) - , Politik sich nun endlich ohne christliche Maske immer offener zur Machtpolitik bekennen durfte, eine Gefahr, der auch die Klassiker trotz Schillers Wilhlem Tell usw. viel zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet hatten- (Goethe war unverhohlen ein großer Napoleonverehrer) - und die Philosophie sich langsam im Neukantianismus, Neuhegelianismus, Diltheys vergeistigter Lebensphilosophie oder dem nordamerikanischen Neotranszendentalismus Emersons in eine Kulturphilosophie transformierte, die Wirklichkeit nur noch als kulturelle Wirklichkeit akzeptierte und einem ganz unkritischen Zeitgeist huldigte, der eher wesensmäßig gedeutet und wertbezogen verklärt wurde, denn kritisch hinterfragt - (mit Goethes Faust konnte man ja auch noch dem Bösen etwas Positives abgewinnen).

Genauer gesprochen war der alte "Querelle des anciens et des modernes" nun im Bund mit einer angeblich wissbaren Geschichte in einem Doppelgesicht wieder auferstanden: Auf der einen Seite wurde die logische Kluft zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften immer tiefer, wobei die Adepten der Naturwissenschaften traditionell eher die Partei von Fortschritt und Aufklärung, die Anhänger der Geisteswissenschaften die der Tradition und des antiken Vorbildes ergriffen. Auf der anderen Seite verschärften sich die sozialen Gegensätze, in deren Verlauf es an der Seite der Herrschenden nie an etablierten Kulturphilosophen fehlte,- die späten Hegel und Schelling - waren nur die berühmtesten -, die bereitwillig zur Legitimation des bewährten Gewachsenen und Gottgewollten beitrugen. Auf die Seite der Unterprivilegierten und Ausgebeuteten schlugen sich seit den Frühsozialisten und Junghegelianern akribische Analysanten beobachtbarer Entwicklungen, deren Eigendynamik ebenfalls als gottgewollt interpretiert wurde und zu deren Beschleunigung Ideologiekritik an die Stelle von Philosophie betrieben wurde.Aus der Marxschen Sicht der Dinge etwa, derzufolge die gesellschaftlichen Produktivkräfte die eigentlichen Fortschrittskomponenten sind und Philosophen deshalb nur noch auf die Teilnahme an den gesellschaftlichen Veränderung, nicht mehr auf die beschaulichen Interpretation der Wirklichkeit fixiert sein sollten, konnte es scheinen, als ob alle Philosophie "in Wahrheit" nur geisteswissenschaftlich legitimierte Ideologie sei, deren fällige Kritik aber naturwissenschaftlich legitimierte absolute Wahrheit. Während aus den Augen der Geisteswissenschaften Geschichte immer mehr als eine fortschreitende Entfaltung von Kulturen, Werten und Idealen interpretierte wurde, bewerteten dies die Naturwissenschaften eher nüchterner als das Manifestwerden natürlicher Interessen und realer Machtverhältnisse, am Ende vorrangig als biologische, technische und ökonomische Evolution, aber auch als Produkt kosmischer Prozesse und der Thermodynamik. Beiden gegenüber brachte das Marxsche Denken alles auf den einfachen Nenner von Ideologie und Ideologiekritik: Alles Vergangene und Überholte ist mit Ideologie im Bunde, alles Zukünftige und Progressive mit Ideologiekritik. Als zu dieser Grundhaltung später noch Nietzsches Moralkritik und Freuds Bewußtseinsherausforderung hinzukamnen, schien der Begriff der Aufklärung vielerorts nur noch Aufbegehren gegen gesellschaftliche, moralische und seelische Zwänge zu beinhalten. Darüber hinaus waren Argumente sinnlos und Berufung auf Wahrheit überflüssig.

Im Schlepptau dieser Simplifizierung wurde das politische Selbstbewußtsein der Völker unter der Hand, von der Französischen Revolution und den Befreiungskriegen gegen Napoleon ursprünglich beflügelt, von den Geisteswissenschaften laufend gestützt und von der Romantik gefühlsselig verklärt, immer nationalistischer und sendungsbewußter, das der maßgebenden Politiker , von den Naturwissenschaften spätestens seit Darwin indirekt freigesprochen, immer macchiavellistischer und imperialistischer. Das gesellschaftliche Selbstbewußtsein aber spaltete sich in das wachsende Lager eines sozialistischen Heilsversprechens für alle Mühseligen und Beladenen, und dessen renitenten Widerpart der an Ideale sich klammernden Verantwortungsträger einer sich ausbreitenden Bürgerlichen Gesellschaft. In dieser Situation brachten auch die eigentlich fortschrittsfreundlichen, selbständigeren Philosophen nicht mehr die Kraft auf, dem immer weniger argumentativen und zunehmend wahrheitsgeblendeten Treiben ihrer Zeitgenossen ins Auge zu blicken. Die Nachlaßverwalter des Deutschen Idealismus an den deutschen Universitäten verstanden sich ohnehin mehr als Hüter des Weltgeistes denn als seine Kritiker, die Neukantianer mehr als Kulturapostel denn als Kulturerforscher, die wachsende Schar der Vertreter der Lebensphilosophie im Anschluß an Schopenhauer und Nietzsche badeten in einem tragischen Lebensgefühl, dem unverbindlicher Ästhetizismus und Naturromantik ganz ebenso wie verantwortungslose Egozentrik und gewaltverherrlichender Jugendkult entspringen konnte und eine neuentstandene Psychoanalyse begann schließlich in Intellektuellenkreise und Feuilletons eine großangelegte hintergründige moral- und kulturkritische Relativierungs- und Zersetzungskampagne weit über das Pathologische hinaus. Auf der Straße aber tummelten sich die politisch militanten Ideologiekritiker aller Schattierungen, zunehmend in rechts und links polarisiert, nationalistisch und interantionalistisch, reaktionär und anarchistisch. So also war die "geistige Situation der Zeit" beschaffen, als der Erste Weltkrieg wie ein Hurrikan das ganze geistige Europa durcheinanderwirbelte. Das war es, was von der Welt eines Kant und Goethe am Vorabend des Ersten Weltkrieges noch übrig geblieben war!

VI. Vierter Neuanlauf: Werturteilspostulat.

Aber schon bevor die Scheinwelt der Geschichtsbesessenen, Kulturgeblendeten, Lebenstrunkenen, Gewaltverherrlicher und Wissenschaftshörigen mit dem Ersten Weltkrieg in einem großen Krach zusammenbrach, hatte Max Weber in seinem methodologischen Werk gründlich mit einem geistigen Spuk aufgeräumt, bei dem ein jeder sich nicht nur in Gottes Zukunftsplanung eingeweiht wissen durfte, sondern auch noch als der Griffel in seiner Hand beim Schreiben des letzten Kapitels des Dritten Buches, der Geschicht. Max Weber beendete definitiv die Glaubensverirrung in die Geschichte, indem er rigoros in radikaler Abrechnung mit dem nachidealistischen Epigonentum die aktuellen wissenschaftslogischen Konsequenzen aus Kants transzendentalem Grundansatz zog, was aber den Zeitgenossen wegen der aus Selbstbescheidung überbetonten Nähe zu seinem Freund, dem Neukantianer Heinrich Rickert, überwiegend verborgen blieb. Im Unterschied zu Kant hatte Weber inzwischen nicht nur die Naturwissenschaften, sondern auch Geistes- und Sozialwissenschaften vor Augen, als er seine axiomatischen Trennungsstriche zog, politisch stand ihm darüber hinaus ein umfassender Einblick in das Innenleben der Parteien parlamentarisch verfasster Staatsgebilde zur Verfügung und philosophisch war er in der Lage, die Resultate und Restbestände des Deutschen Idealismus nicht nur zu überblicken, sondern auch kritisch zu beurteilen. Als hervorragender Kenner von Marx und Nietzsche, aber auch von Darwin und Freud, machte er sich außerdem auch keine Illusionen über die Angriffsflächen, denen sich Ideale und wertbezogene Positionen grundsätzlich dann ausgesetzt sehen, wenn sie zu situationsabhängig verbindlich verallgemeinert werden. Weber rehabilitierte Argumente so grundsätzlich, daß von nun an nicht nur die Wissenschaften, sondern auch Ethik und Werte ihrer Herrschaft nicht mehr entgingen. Für die Wissenschaften forderte er insofern "Wertfreiheit", als wissenschaftliche Erkenntnis nur dann objektiv und allgemeingültig sein kann, wenn sie bedingt formuliert und transparent kontrollierbar ist. Und für die Praxis der Werte, Ethik und Politik, deren normativer Anspruch per se niemals "wissenschaftlich" ausgewiesen werden kann, forderte er Wertdiskussion. Die Spannung von Theorie und Praxis wurde also bei Weber nicht nach der einen oder anderen Seite hin aufgelöst, so wie es in den philosophischen Positionen um ihn herum üblich war, sondern blieb aufrechterhalten: Indem Wissenschaft, die auch noch "für einen Chinesen gelten will", sehr wohl Werte und Normen untersuchen kann, wenn sie dabei nur bedingt bleibt, und damit objektiv und allgemeingültig, kann sie umgekehrt auch sehr wohl Wertbeziehungen unterstehen und problembezogen auf Werte ausgerichtet sein, wenn nur dieses "Primat der Praxis" nicht seinerseits wieder mißverständlich wissenschaftlich legitimiert wird, anstatt "verantwortungsethisch" persönlich gerechtfertigt zu werden..

Mit Max Weber ist die Aufklärung auf einem Niveau zu sich zurück gekommen, das nun erstmals dem Wissenschaftsaberglauben der französischen Aufklärung gewachsen war und obendrein das Bildungsideal der deutschen Klassik selbstkritisch zu interpretieren erlaubte. Indem Max Weber zeigte, was Wissenschaft leisten kann und was nicht, überbrückte er auch die Kluft, die seit dem "Querelle des anciens et des modernes" Konservative und Progressive in unverträgliche Lager gespalten hatte. Die logische Kluft von Sein und Sollen, übersichtlich in Stellung gebracht, machte es von nun an nicht mehr möglich, politische Meinungen und philosophische Weltanschauungen mit wissenschaftlichen Einsichten zu verwechseln. Die von ihm methodologisch gereinigten Sozialwissenschaften waren jetzt in der Lage, objektiv ausweisbare Resultate zu liefern und damit auch neutral die ökonomischen und gesellschaftlichen Ursachen zu finden, die den Wandel in Freiheit bestimmen und zu dem man sich so oder so verhalten kann. Der von ihm situationsspezifisch als Verantwortungsethik radikalisierte Kategorische Imperativ Kants vereinte im Prinzip alle, die guten Willens waren, in einer großen Verantwortungsgemeinschaft, die unterschiedliche politische Standpunkte und kulturelle Wertpräferenzen endlich ganz legitim gemeinsam tolerierte. Insofern nannte Max Weber als erster nach Kant (und trotz John Stuart Mill) ganz konsequent die geistigen Voraussetzungen beim Namen, die eine pluralistische bzw. multikulturelle Gesellschaft in letzter Instanz möglich machen. Was seine Gegner dabei als Liberalismus bekämpften, war eben genau das, was diesen selbst fehlte, um die eigenen sozialen Utopien realistisch denken zu können. Um eine ausdrückliche Explikation von Wahrheit aber - (ihm genügte hier die Logik, die er als Selbstverständlichkeit behandelte) - hat sich Max Weber ebenso wenig direkt gekümmert, wie um eine explizite philosophische Grundlegung seiner Einsichten. Er beanspruchte nicht, Philosoph zu sein und wollte nur sagen, was Wissenschaft als "Wirklichkeitswissenschaft" bedeutet, wenn sie den Geltungsansprüchen an Wissenschaft überhaupt gerecht werden will. Als Karl Jaspers 1920 in seiner Heidelberger Trauerrede zu Max Webers frühen Tod ihn im Anschluß an Kierkegaard als exemplarisch gegenwärtigen Repräsentanten dessen feierte, was später die Existenzphiliosophie zu einer Grundsatzposition ausbaute, so war das damals als Signal für einen neuen Anlauf der Aufklärungsphilosophie gedacht. Daß derselbe Autor angesichts der aufkommenden Herausforderung durch den Nationalsozialismus zwölf Jahre später Max Weber nicht mehr länger als exemplarischen existenziellen Denker, sondern darüber hinaus zuerst als den Galilei der Geisteswissenschaften und lebendige Verkörperung der Vernunft seiner Zeit würdigen konnte, zeugt für die überragende Weite dieser reflexiven Position. Sie zeugt aber auch für die Zeitgebundenheit seiner Interpreten und für die aktuellen Mißverständnisse, denen er zeitlebens ausgesetzt war. Daran hat sich bis heute wenig geändert,

Max Weber Denken imponierte seinen Zeitgenosse, aber es machte keine Schule, wenn man von dem einsamen Denken Karl Jaspers' absieht, der sich sowohl in seiner frühen Phase (Existenzphilosophie) als auch in seiner späten (Vernunftphilosophie) ganz am Vorbild Webers orientierte. Wie kaum ein zweiter Denker vor ihm wurde Max Weber nach seinem viel zu frühen Tod buchstäblich weginterpretiert: Die Neukantianer um seinen vollmundig selbsternannten "philosophischen Lehrer" Heinrich Rickert publizierten endlose Arbeiten, die alle nur dem einen Zweck dienten, Weber (trotz Werturteilspostulat und Transformation von Wesensbegriffen zu in heuristische Idealtypen) als originären Wertphilosophen zu retten. Als selbsternannter Nachlaßverwalter von Max Webers sogenanntem Werturteilspostulat interpretierte der Zyniker und spätere nazionalsozialistische Mitläufer, sein Freund Werner Sombart, "wertfreiheit" doch tatsächlich so, als gälte es nicht, dabei eine Grundspannung zwischen Theorie und Praxis auszuhalten, sondern in Anlehnung an den Positivismus Werte einfach nur auszuschalten. Der Bruder Alfred Weber bekannte sich zu einer Kultursoziologie, die konstitutiv an Werte einer angeblich immanenten Transzendenz gebunden sein sollte, nicht mehr so, wie er dem angeblichen angnostischen Bruder unterstellte, an subjektive Wertpositionen. Leo Strauss favorisierte einen religiösen, Carl Schmitt einen dezionistischen Etatisamus als Ausweg aus dem Werturteilsdilemma. Daneben reklamierten Positivisten Max Webers Position als Wertrelativismus für sich, so als ob dieser nicht selbst heftig gegen eine solche Verwechslung protestiert hätte. Durkheimschüler glaubten in Webers Objektivitätsideal eine Lizenz dafür zu besitzen, sich dem Studium einer Gruppe oder Gemeinde unter den gleichen Voraussetzungen widmen zu dürfen wie ein Physiker dem Plantensystem oder dem Atom. Schließlich hat Talcott Prasons in den USA Max Weber als Vorkämpfer einer umfasssenden struktural-funktionalen Theorie sozialen Handelns populär gemacht, gleichsam als ob Max Weber nie über das Wissenschaftsideal Newtons hinausgekommen wäre und nicht selbst auf die Unmöglichkeit einer Angleichung seiner "verstehenden" Soziologie an das Ideal der Naturwissenschaften ausführlich aufmerksam gemacht hätte. Als dann in den sechziger Jahren Niklas Luhmann diesen Ansatz zu einer funktional-strukturale Systemtheorie weiterentwickelte, gelang es auch ihm, dafür Anstöße bei Max Weber zu finden. Bei so vielen Ungereimtheiten verwundert es nicht, daß die offiziellen Werturteilsdebatten im Verein für Sozialpolitik und der 1910 gegründeten deutschen Gesellschaft für Soziologie von 1909 bis 1914 Max Webers eigener Meinung entsprechend niemals zur Sache kamen. Sein abschließendes überarbeitetes Gutachten zur Wertfreiheit von 1917 besteht deshalb lediglich aus der Aufklärung einer langen Reihe von Mißverständnissen, die seiner Meinung entsprechend gar nichts mit dem eigentlichen Thema, der logischen Kluft und den Bedingungen von Wertdiskussionen, zu tun hatten. Als 1962 der Werturteilsstreit nach einer Tübinger Podiumsdiskussion zwischen Popper und Adorno als sogenannter Positivismusstreit wiederauflebte, um mit seiner pointierten Polemik alsbald die heraufkommende Studentenrevolution zu munitionieren, blieb es weiter bei den Mißverständnissen, weil die Parteigänger Webers in dieser Kontroverse, die Vertreter des Kritischen Rationalismus, Ernst Topitsch und Hans Albert, Webers freies Wirklichkeitsverständnis physikalistisch verengten und so weder der Weite seines Objektivitätsverständnisses noch der Strenge seines verantwortungsethischen Anspruchs gerecht werden konnten. So kam es noch einmal zu einem vordergründigen Triumpf der Gegenseite auf dem Höhepunkt der APO mit Begründungen, die sich alle bereits ein halbes Jahrhundert zuvor als unhaltbar erwiesen hatten und zehn Jahre später sich abermals wieder schnell zu entwerten begannen.

Bei so viel Desorientierung bei Freunden war es kein Wunder, daß die Gegner von allen Seiten, (ob konservativ oder progressiv, politisch links oder rechts, philosophisch idealistisch oder materialistisch, religiös kirchlich oder sektiererisch), im Namen von Wissenschaft die eine wertende Wissenschaft zurückforderten, des weiteren einen eindeutig bestimmbaren "materialen" Wertekosmos, inhaltliche Imperative und unzweideutige politische Richtungsvorgaben ersehnten. Die von Max Weber bei jeder Gelegenheit geforderte intellektuelle Redlichkeit störte dabei immer weniger, weil der Stil der Auseinandersetzungen immer grobschlächtiger wurde. Nachdem der Totalitarismus rechter und linker Prägung bald ganz Europa mit Ausnahme von England, Schweden und der Schweiz beherrschte, hatte Max Weber auf der ganzen Linie verloren. Langjährige Gegner im Werturteilsstreit seit 1909 triumphierten, die inkompetenten Verteidiger seiner Sache waren inzwischen entweder emigriert, hatten kapituliert oder waren gar aus eigenem Mißverstand freiwillig konvertiert. Überall bis hinunter ins Alltagsleben war jetzt so dezidiert wie nie mehr seit dem Mittelalter eine wertende Wissenschaft angesagt, wurden Trennungen als dekadent verurteilt und eigenständige Berufungen auf Wahrheit beargwöhnt. Überzeugte Katholiken hatten natürlich immer schon so denken müssen und Protestanten hätten es heimlich auch gern so gehalte. Hegelianer aber konnten jetzt wieder ungebrochen die vernünftige Wirklichkeit als die Wirklichkeit der Vernunft verherrlichen, Kulturphilosophen mit Spengler die Entwicklungsreife von Gemeinschaften normativ bestimmen, Nietzscheaner mit gutem Gewissen die Werte des Lebens gegen die technische Zivilisation ausspielen und die Sozialisten aller Herkunft, von Lenins Aktionismus tief beeindruckt, sich unbedingt zu Revolution und Klassenkampf bekennen. Carl Schmitt konnte sich jetzt offen zum totalen Staat bekennen. Alles überbietend und vereinnahmend verordnete schließlich der Nationalsozialismus eine geschlossene Wertaxiomatik, deren fünf Prinzipien alle angeblich wissenschaftlich felsenfest begründet waren: Die beiden darwinistischen Pseudoprinzipen - ( 1. fressen und gefressen werden, 2. natürliche Zuchtwahl), - die beiden pseudoromantischen Mythen - ( 3. Rassereinheit ist beser als Rassemischung, 4. die arische Rasse ist die auserwählte) sowie der eine pseudosozialistische bzw. völkische oder idealistische, je nach Gusto - ( 5. "Der Einzelne ist nichts, das Volk ist alles"). Max Webers Soziologie hätte diesen Prinzipien den Spiegel vorhalten können, aber Kritik und "wertfreie Wissenschaft" waren in dieser Ideologie offiziell nicht mehr vorgesehen. Die Propaganda verlangte sogar eine deutsche Physik, deutsche Mathematik usw, nicht anders als in der Sowjetunion Stalins eine sozialistische Naturwissenschaft im Anschluß an Lenin auf die Tagesordnung gesetzt worden war.

Es ist im Rückblick fast unbegreifbar, wie wenig offizieller Widerstand von Gebildeten, die doch noch herkömmlich wissenschaftlich geschult und am klassischen Bildungsideal erzogen worden waren, schon im Vorfeld der Machtergreifung auch nur spürbar war. Was mochte wohl damals in den Köpfen von Arnold Gehlen, Konrad Lorenz oder Helmut Schelsky vorgegangen, sein, als sie solch ein Denken offiziell vertreten mußten? Welche Verdrängungen, Entschuldigungen, Abwiegelungen und Verenkungen waren nötig, um als halbwegs urteilsfähiger Mensch in einem solchen geistigen System Karriere machen zu können, gar noch begeistert mitzumachen? Es war, als ob die Intellektuellen der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts von einem kollektiven Wahnsinn befallen gewesen wären: Aber war das eigentlich anders bei der frühen Christianisierung, der Ausbreitung das Islam, der Reformation, der Vorwärtsdynamik der Französischen und Russischen Revolution? Und haben wir nicht denselben Wahnsinn Ende der sechziger Jahre in einer globalen Studentenrevolte erlebt, oder soeben wieder in ganz anderem Zusammenhang anläßlich des jüngsten Irakkrieges? Was mag uns da nicht noch alles künftig bevorstehen! Immer wieder begegnen wir dem erneuten Zusammenbruch von Urteilskraft und Vernunft im Kollektivrausch eines geistigen Paradigmas, das es erlaubt, Argumente für beiläufig zu halten und Wahrheit für entschieden. In allen großen geistigen Reaktionsphasen gab es traurige Fälle prinzipieller Haltlosigkeit, besonders auffalend beim Versagen der Eliten gegen den roten und braunen Totalitarismus! Max Webers Klarsicht hatte unter ihnen keine Chance gehabt, das Debakel war dementsprechend, es bedurfte des Zweiten Weltkrieges und der in mehrfacher Hinsicht damit verbundenen Stunde Null, bis Argumente und Wahrheit erneut wieder grundsätzlich gefragt waren.

Im Rückblich ist die Zeit nach dem ersten Weltkrieg in Mitteleuropa eine Epoche bodenloser Entwurzelung gewesen. Überall war Revolution angesa.: In der Gesellschaft, der Politik, der Kunst, der Wissenschaft, der Technik, der Wirtschaft usw. Alle alten Ordnungsparameter schienen mit einem Schlag entzaubert: Die bürgerliche Gesellschaft, das Kaisertum, der Realismus in der Kunst, die klassische Physik, die klassische Ökonomie! In dieser Situation anvancierten anarchstische Typen wie ein Otto Groß zu Propheten der Moderne, ein Nietzsche zum faszinierendsten Kultdenker, die Psychoanalyse zur Aufklärungsinstanz, der Darwinsimus zur Überwissenschaft, ein Oswald Spengler mit seinem "Untergang des Abendlandes" zum anerkannten Historiker und der große Mann, ob Lenin oder Hitler, zum Erlöser. So konnte sogar ein Egon Friedell in seiner "Kulturgeschichte der Neuzeit" (1927) ganz unbefangen bemerken: "Das Ideal, das das politische Leben der letzten Generationen beseelte, war der Konstitutionalismus: er hat sich ebenso vollständig ausgelebt wie seinerseits der Kaisergedanke, weder die Rechte noch die Linke nimmt ihn noch ernst, die vorwärtstreibende Idee ist hier Diktatur des Proletariats, dort Diktatur eines Einzelnen: Cäsarismus." (dtv 1168, Bd.I. S.170). Kein Wunder, daß ein Karl Kraus "Die letzten Tage der Menschheit" auf die Bühne bringen lassen konnte. Um diesen geistigen Herausfordeungen gewachsen sein zu können, fehlte in Deutschland zumal das politische Bewußtsein: Die Linken waren bei Karl Marx, der die Politik abschaffen wollte, die Rechten bei Bismack, dem es seinerseits eher um die Abschaffung der Demokratier ging. Die deutschen Bildungsbürger verehrten mit Goethe das Dämonische, welcher die Welt der "Banausen" ohnehin nicht gewachsen sei, die Katholiken waren politsch desinterssiert, die Lutheraner unterwürfig, die sogenannten Bekennenden Christen waren einäugig bei fast allem, was sich außerhalb ihres Gemeindelebens abspielte. Wo blieb da noch eine Basis für den sogenannten gesunden Menschenverstand? Man kann darüber spekulieren, wie die deutsche Geschichte verlaufen wäre, Max Weber hätte sich ab 1920 weiter in die deutsche Politik einmischen können, wäre gar Reichspräsident geworden, wie sich das viele seiner Parteifreunde (DVP) gewünscht hatten. Es genügt, sich vor Augen zu führen, Max Webers wissenschaftliche und philosophische Grundposition wäre von den Zeitgenossen verstanden und akzeptiert worden: zu einen zweiten Weltkrieg hätte es dann wohl nicht kommen müssen!.

VII. Fünfter Neuanlauf: Stunde Null.

In der Stunde Null nach dem Zweiten Weltkrieg hatten vernünftige Menschen nur den einen Gedanken, alles tun zu müssen, damit sich so eine Katastrophe nie mehr wiederhole. Natürlich ging es dabei dann auch um die Wiedergewinnung tragfähiger geistigen Grundlagen, die Suche war aber halbherzoig und von keinem überzeugenden Erfolg gekrönt. Person und Position Max Webers blieben bei diesem neuerlichen Vernunftanlauf von Anfang an im Zwielicht und deshalb umstritten, weil viele nach der nicht mehr so für möglich gehaltenen Barbarei die Erneuerung von einer Rückkehr zu alten Werten und Traditionen, bürgerlichen Tugenden und korporativen Konsensmodellen, zu Religion und kosmischen Ordnungen erhofften, und dabei Max Weber eher als Gegner denn als Verbündeten wahrzunehmen vermochten. Die reflexive Grundlegung eines geläuterten freien Denkens in einer von vielen Seiten berdohten Freien Welt blieb deswegen ambivalent, überall meldeten sich Stimmen, die eigentlich von ihrer Vergangenheit her viel zu kompromittiert waren, um für eine Position der Argumente und unbedingten Wahrhaftigkeit konsequente Verbündete sein zu können. Da kamen sie alle wieder, die gescheiterten, falschen Lehrmeister der Politik, die Marxisten, die Politik eigentlich abschaffen wollten, die selbsternannten Realpolitiker, die mit Bismarck keine Demokraten waren, die altgedienten Sozialdemokraten, die im Vorfeld der Machtergreifung sich widerstandslos überrollen ließen, die Liberalen, die bei Hitlers Ermächtigungsgesetz keine Zivilcourage bewiesen hatten, die Bildungsbürger, die mit vermeintlicher Berufung auf Goethe sich geistige Luftschlösser gebaut hatten, die Lutheraner, die im Vertrauen auf Römer 13 ("Ein jeglicher sei Untertan der Obrigkeit, denn alle Obrigkeit ist von Gott") einst Hitler angehimmelt und um seine Schiedrichterrolle in innerkirchlichen Machtkonflikten gebuhlt hatten, die Bekennende Kirche, der zur Verteidigung der Menschenrechten außerhalb der Gemeinde (von Bonhoeffer abgesehen) nichts Mutiges eingefallen war, die Katholiken, deren eigene Dogmen bis heute immer noch unangetastet sind, die hoffnungslos überholten philosophischen Schulen, dogamtische Ontologien und spekulative Metapysiken, die biologisch orientierte Evolutionstheorie, die in einer barbarischen Rassenvariante einmal offizielle Staatsphilosophie gewesen war usw. Sie alle vereinte mehr oder weniger der Wille zur Freiheit und zum Frieden. Aber was Vernunft sein sollte, blieb umstritten und sehr bald im Kalten Krieg in eine grundlegende Gegnerschaft gepreßt, die von der einen Seite als Kapitalismus entlarvend diskreditiert, von der anderen Seite als linker Totalitarismus der Menschenverachtung und Dikatur geziehen wurde. Wenn jemand, wie etwa Karl Jaspers, tatsächlich mit seiner "Schuldfrage" usw grundsätzliche Neubesinnung auf gänzlich bereinigter reflexiver Grundlage forderte, dann stieß dies auf Verständnislosigkeit, zumal auch seiner eigenen frühen Existenzphilosophie eine unpolitische Grundhaltung vorgehalten werden konnte. Wenn jemand, wie ein Alexander Rüstow mit seiner "Ortsbestimmung der Gegenwart", eine sozialökonomische Gesamtbereinigung versuchte, dann lief das meist auf die Betonung der Unteilbarkeit von politischer und wirtschaftlicher Freiheit hinaus und gipfelte gewöhnlich in einem Gesamtplädoyer für die Rehabilitation der Bürgerlichen Gesellschaft und politischen Liberalismus.

Immerhin war es wegen der Freiheit der Medien innerhalb des Lagers der sogenannten Freien Welt relativ möglich, Argumente einzuklagen. Aber was Wahrheit ist, kam nie zur Klarheit, was bald zu einem Zustand zunehmender pragmatischer Kompromisse und schleichender Aushöhlung von Werttraditionen und Pflichtbegriffen führte. Wer da nach Orientierung suchte, blickt hinüber zu den Vereinigten Staaten und der angelsächsischen Philosophie überhaupt, wo man nicht nur politisch, sondern auch philosophisch im Zweifelsfall einen Halt wissen durfte. Schien es doch, als ob allein die Geschichte der USA das zukünftoge Heil der Menschheit garantieren und den Weg vorzeichnen würde, der zum Weltfrieden führt. Politisch hatte noch Präsident Roosevelt rechtzeitig mit der Gründung der Vereinten Nationen ein Zeichen gesetzt, der Menschenrechtskatalog der Atlantik-Charta und schließlich die UN-Charta schienen für die meisten den harten Kern eines gemeinsamen Bodens zu verkörpern, der als tragfähige Basis für eine Neubesinnung der Freien Welt allein in Frage kommen konnte. Nachdem die USA nun schon zum zweiten Mal im Europa des zwanzigsten Jahrhunderts nach dem Rechten sehen mußten, lag es nahe, daß die missionarische Botschaft der Amerikanischen Revolution nun auch in Europa auf Resonanz stieß. An den USA konnte man ja mit Hannah Arendt das Beispiel einer gelingenden Revolaution studieren, die im Unterschied zu Frankreich und Rußland einer bürgerlichen Gesellschaft treu geblieben war und das Ideal der Freiheit keinen Gleichheits- und Gerechtigkeitsutopien geopfert hatte. Es lag deshalb nahe. daß der geistige Neuanfang in der Freien Welt seinen Grundkonsens in einer unbedingten Akzeptanz der wichtigsten amerikanischen Errungenschaften fand: Freiheit, bürgerliche Gesellschaft und pragmatisches Denken. Dabei blieben aber Fragen offen: Wie war Freiheit prinzipiell moralisch zu begründen, politisch durchzusetzen und militärisch zu verteidigen? Dem Kult des Existenzialismus war nur eine Augenblickswirksamkeit beschieden, ihm konnte keine dauerhafte Antwort entnommen werden. Die Antworten des Liberalismus waren zumeist blauäugig und im politischen Selbstbehauptungskampf der sogenannten Freien Welt gegen den Kommunismus dominierten bald so sehr machtpolitische, ja imperialistische Eigeninteressen, daß die offiziellen Ideale für viele an Überzeugungskraft einbüßten und die Amerikaner sich sehr bald mit dem Vorwurf konfrontiert sahen, lediglich die Weltherrschaft anzustreben. Auch was die Eigengesetzlichkeiten einer bürgerlichen Gesellschaft betraf, fehlten überzeugende Antworten angesichts der Auswüchse, die eine von ihren Gegnern als Kapitalismus geziehene Gesellschaftsform täglich drastischer dem wachsenden Medienpublikum in aller Welt präsentierte. Denn die bereits von Karl Marx analysierten Selbstauflösungstendenzen des Kapitalismus ließen sich ja nur dann bändigen, wenn einmal das Primat der Politik gesichert würde und zum anderen diese Politik auch unabhängig und durchsetzungsfähig das Allgemeinwohl im Augen behielte. Beides wurde zunehmend zweifelhafter, die Glaubwürdigkeit der Politiker ist inzwischen überall so sehr gesunken, daß kaum noch jemand nach jüngsten demoskopischen Untersuchunegn Vertrauen hat. Grundsätzlichen Versuchen, das Primat der Politik in der bürgerlichen Gesellschaft glaubwürdig zu sichern, so einmal der Idee der Sozialen Marktwirtschaft im Nachkriegsdeutschland, der Idee des Dritten Weges in England (Blair usw) oder der neuerliche Neoliberalismus (Milton Friedman usw) mit seinem Gegenstück, dem Kommunitarismus in den USA (Michael Walzer usw), fehlt das grundsätzliche philosophische Fundament, um der wachsenden Schar der Systemgegner im Inneren, aber auch einem perennierenden Fundamentalismus und Lobbyismus allenthalben selbstbewußt entgegentreten zu können, ohne sofort wieder zerredet und relativiert zu werden.

Auch eine Neuanknüpfung an die Tradition des pragmatischen Denkens in den USA konnte da nicht weiterhelfen, weil diese für sich weder das Argumentations- noch das Wahrheitsproblem geklärt hatte, und deswegen in ihrer Weiterentwicklung ganz auf den geistigen wie personalen Zufluß angewiesen war, der mit der Emigration aus Europa nach Hitlers Machtergreifung einsetzte. Der amerikanische Pragamatismus nahm vor allem den Positivismus der Wiener Schule in sich auf und entwickelte sich so zu einerf sogenannten analytischen Philosophie, die nun für alle, die in Europa modern sein wollten, zum Vorbild wurd. Der Reihe nach adaptierte man alles, was dort auf der Suche nach sicheren Fundamenten logischer und begrifflicher Erkenntnisgewißheit zur vorherrschenden Mode wurde: Logistik, Sprachanalyse, Tiefengrammatik, Zeichentheorie, Sprechakttheorie, Semantik und schließlich im Gleichklang mit dem Aufstieg der Informatik auch Kommunikationstheorien, um schließlich mit Diskurs- und Argumentationstheorien in die Eigendynamik des analytischen Philosophierens selbst einzugreifen. Wenn inzwischen so illustre Repräsentanten der analytischen Philosophie wie Putnam, Rorty oder Mc Ginn wieder die Weisheit der pragmatischen Klassiker Peirce, James und Dewey preisen, oder gar Kant für die Angelsachsen wieder neu entdecken, dann ist das nichts weniger als das Eingeständnis, daß das so lange hochgelobte Projekt der analytischen Philosophie insgesamt sich in einer Sackgasse befand, weil es von Anfang an mit unrealisierbaren Illusionen behaftet war. Im Europa der fünfziger Jahre konnte diese Entwicklung natürlich noch nicht vorausgesehen werden, man blickte gläubig nach Westen, von woher alles Heil kommen sollte, und folgte etwa mit Wolfgang Stegmüller jeder Akzentverschiebung der Axiomatik, so als handle es sich in jedem Fall dabei um geistigen Forschritt. Praktisch handelte es sich um das endlose Versprechen immer größerer Gewißheit in der Philosophie, immer effektiveren Zugangs zur Welt, immer größerer Einheitlichkeit in den Sozialwissenschaften, immer vernünftigerer Planbarkeit der Zukunft, immer toleranteren Umgangs in der Gesellschaft, immer demokratischerer Praktiken in der Politik: Alles Illusionen, wie sich früher oder später zeigen sollte. Übersehen worden war dabei, daß der unbestreitbare faktische technische Fortschritt nicht einfach sein Spiegelbild in der Philosophie finden konnte, ohne diese ad absurdum zu führen: Philosophie, die lediglich die Wissenschaften zu überbieten sucht, ist sterile Wissenschaft gleich wie reflexionslose und damit irreführende Philosophie. Auf der Suche nach Fundamenten der Wahrheit allein, und nicht nach der von Wirklichkeit, befand sich das ganze analytische Paradigma von Anfang an auf dem abschüssigen Weg eines Selbstauflösungsprozesses: Als Richard Rorty mit seinem "The Mirror of Nature" 1979 diese Einsicht erstmals pointiert publik machte, öffnete er leider nur die Tür zur Postmoderne und zugleich eine Büchse der Pandora, wonach nun dem von allen analytischen Fesselns befreiten Denken endlich alles erlaubt sei. An dessen äußersten Ende kann so folgerichtig die Kunst des Lügens gepriesen werden, weil angeblich Wahrhaftigkeit nicht der Zweck der Sprache sei, wie man der Sprechakttheorie entnehmen könne: Simone Dietz hat uns das soeben als allerneuste Erkenntnis angelsächsischer Philosophenfrüchte mitgeteilt.

Abgesehen von dem enttäuschenden Versuch, in der analytischen Philosophie eine intersubjektive Basis zu finden, hat sich die europäische Philosophie nach 1945 sonst hauptsächlich auf die geisteswissenschaftliche Beschäftigung mit Texten und Philosophiegeschichte zurückgezogen. Man baute sich Fluchtburgen für Geborgenheit, richtete sich häuslich in Nischenwohnungen ein und büßte dabei weitgehend seine öffentliche Wirksamkeit ein. Das Angebot war ja auch verführerisch: Mit Martin Heidegger konnte man zu den Seinsanfängen flüchten, mit Hans Georg Gadamer zu den Griechen, mit Lévi-Strauss in das Studium der Strukturen von Sprachen und Kulturen, mit Paul Lorenzen in logische Scheingewissheiten, mit Arnold Gehlen zu einer nun pragmatisch gewendeten Anthropologie, mit Konrad Lorenz zu einer vergleichenden Verhaltensforschung, mit Karl Otto Apel in eine endlose Suche nach der Begründung von Normen und schließlich mit Jürgen Habermas auf der Suche nach verbindlicher Gewißheit in einen enlosen Marsch durch die zeitgenössischen Angebote oder mit Niklas Luhmann in endlose Systemanalysen. Sartres Existenzialismus blieb eine Mode und wurde von ihrem Autor schon 1964 in "Les Mots" selbst demontiert. Nicht anders war es um eine sogannte Kritische Theorie der Franfurert Schule bestellt, die schon im Augenblick ihrer beginnenden Breitenwirkung Ende der sechziger Jahre von ihrem Urheber Max Horkheimer selbst nicht mehr ernst genommen wurde, entweder weil der Weg aus den einzelnen Gehäusen in Umgangssprache und Medien viel zu kompliziert geworden ist, oder weil man freiwillig auf jedes Mitspracherecht verzichtet. Heute spielt die Philosophie im öffentlichen Leben der Freien Welt so gut wie keine Rolle mehr. Die Vernunftphilosophie des späten Karl Jaspers versuchte in diesem bedrohlich zunehmenden öffentlichen Vakuum dem Stimmengewirr in Deutschland etwas von der Grundorientierung wieder zurückzugeben, die Jaspers selbst von Max Weber übernommen hatte. Mit seinem Bestseller "Wohin treibt die Bundesrepublik" erreichte er auch ein breites öffentliches Publikum, so wie er überhaupt der meist gelesenste Philosoph seiner Zeit gewesen ist. Aber sein Hauptwerk "Von der Wahrheit", das sich leidenschaftlich um einen Wahrheitskonsens bemüht, blieb unverstanden, ja von der Fachwelt beinahe ungelesen, wenigstens nicht rezipiert, wie Werner Schneiders in einer eingehenden Würdigung resumieren muß. Die anderen großen öffentlichen Gestalten jener Zeit, wie Mahatma Gandhi, Albert Einstein, Albert Schweitzer, Martin Buber, Betrand Russell, Albert Camus, Dalai Lama, Mutter Theresa usw hatten alle so unterschiedliche Denkgrundlagen und weltanschauliche Positionen, daß sie gerade noch im Antitotalitarismus eine gemeinsame Basis hatten und so unter dem Sammelbegriff "Humanismus" zusammengefaßt werden konnten, aber nicht mehr in einer expliziten philosophischen Position. Das gilt auch für die beiden letzten Ikonen der Menschheit, Michail Gorbatschow und Nelson Mandela, beide überwältigende Autoritäten, aber beide auch sehr unterschiedliche Denker, in sehr eigenen biographischen Erfahrungshorizonten verwurzelt und bestimmt auch nicht die professionellen Philosophen, um ihrer Zeit reflexiv von den Wurzeln her den Spiegel vorhalten zu können. So also war es um den philosophischen Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg bestellt. Bei derart brüchigen Fundamenten konnten der neuerliche Gegenschlag nicht ausbleiben

VIII. Fünfte Gegenbewegung: Postmoderne

So viele Halbheiten beim Neuanfang nach der Stunde Null nimmt lassen in der Tat nicht Wunder nehmen, daß wir uns heute in einer geistigen Phase befinden, in der die Reaktion längst wieder Oberhand bekommen hat. Wenn Jürgen Habermas schon 1985 von der neuen Unübersichtlichkeit sprach, so scheint im Augenblick überhaupt keine Übersicht mehr möglich. Von einem irgendwelchen Grundkonsens der sogenannten Freien Welt ist allerspätestens seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht mehr viel übrig geblieben und die Macht, die dafür ihre Ideale beisteuerte und obendrein vierzig Jahre lang die Hauptlast bei der militärischen Verteidigung trug, die USA, steht allenthalben in Europa spätestens seit dem Vietnamkrieg am Pranger, gilt als unglaubwürdig, arrogant, egoistisch und imperialistisch. In wessen Namen aber agiert diese Kritik? Handelt es sich überhaupt um konstruktive Kritik für eine bessere Freiheit, mehr Gerechtigkeit und mehr Frieden, oder lediglich um die Aggression gegen eine Übermacht, deren Ansprüche man überdrüssig geworden ist und deren Existenz man als unbequem empfindet? Was steht hinter diesem überall latent mitschwingenden Antiamerikanismus, der sich im kürzlichen Irakkrieg fast zu einer kollektiven Hysterie steigerte? Es sind wohl die bereits angedeuteten Defizite der Selbstreflexion, mit denen die USA heute ihre Ideale und Botschaften in der Welt verkünden und unter den Völkern durchzusetzten suchen. Im Verlauf des Vietnamkrieges nach der Ermordung John F. Kennedys war der Herrschaftsdruck des positivistischen Denkens und seiner praktischen Ergänzung, der Spieltheorie, in den Planungsetagen des Weißen Hauses unter Johnson so umfassend geworden, daß buchstänblih keine Politik mehr gemacht wurde und stattdessen nur noch strategische Sandkastenspiele mit dem Ziel technischer Überlegenheit und und momentaner taktischer Vorteile durchgezogen wurden. Sinnlosigkeit und blamabler Ausgang dieses Krieges hat im Ausland das öffentliche Ansehen der USA bis heute so geschädigt, daß die Rolle einer geistigen Führungsmacht des Westens nahezu verspielt ist. Nicht Argumente sollen es deshalb sein, die zum Irakkrieg geführt haben, sondern die Gier nach Öl und Herrschaft im Nahen Osten. Und nicht die Wahrheit soll dabei zählen, sondern den USA wird hartnäckig Lüge vorgeworfen, so als ob es gar keinen Unterschied gegeben hätte zu dem, was Saddams Infornmationsminster Shahaff in den Wochen des Krieges von sich gegeben hatte. Hier wird bei aller berechtigten Kritik im einzelnen offensichtlich doch überzogen, und dieses Überziehen hat Methode. Den Amerikaverächtern sind im Zweifelsfall selbst alle Argumente recht, wenn sie nur gegen die USA verwendbar sind, (auch der Papst ist so willkommen, bei der Homoehe dann wieder weniger usw), und Wahrheit wird ihrerseits instrumentalisiert, wenn sie nur der rechten Gesinnung dient. Nirgendwo ist bei diesem neuen Antiamerkanismus, man denke im Extrem nur an die politischen Redaktionen von stern, taz und SPIEGEL, Frankfurter Rundschau und Süddeutsche Zeitung usw oder gar einen Emmanule Todd und Peter Zadek, eine argumentative Grundhaltung und Wahrhaftigkeit erkennbar. Überall stößt man dagegen auf Ressentiments und Rechthaberei und läßt sich dabei gern von US-Querdenkern wie Noam Chomsky, Norman Birnbaum, Norman Mailer oder Susan Sonntag usw. gern bestätigen. Was hat sich da ereignet?

Es war die universale Studentenrevolte von 1967 , die zuerst mit dem notgeborenen Grunndkonsens einer Freien Welt brach, von den Vereinigten Staaten das Heil zu erwarten. In der Folge des Vietnamkrieges, der Bürgerrechtsbewegung in den USA und den Ereignissen, die mit dem Tod John F, Kennedys zusammenhängen, aber auch begleitet von einer ganz neuen Musikkultur und dem naiven Glauben an die willensmäßige und technische Machbarkeit von Frieden und Glück, begann zuerst die Jugend zu rebellieren. Es kam zu einer regelrechten Rebellion gegen die Kultur der fünfziger Jahre, deren Folgewirkungen bis heute anhalten, weil kein radikaler Neuanfang seither mehr durchschlagend gelungen ist. Die Rebellion wurde von geistigen Kräften genutzt, die zwar mit dem real existierenden Sozialismus nichts zu schaffen haben wollten, dafür aber umsomehr seinen geistigen Vätern verbunden waren und deren utopischen Fernzielen die Treue hielten: Charismatischen Ideologen wie Che Guevara, Fidel Castro, Hotschiminh, aber vor allem Lenin, Trotzki oder Mao. Es gibt kaum eine extzentrische Außenseiterfigur vor allem des linken Randes der sozialistischen Bewegung, die in jenen Tagen nicht irgendwann einmal von wenigstens einigen zu neuen Heilsbringern hochgelobt worden wären. Aber natürlich öffnete sich das Tor auch sperrangelweit für asiatische geistige Erlösungswege und subkulturelle psychodelische Moden bis hin zuokkulten magischen Praktiken. Argumentiert wurde jetzt - an solchen Vorbildern orientiert - nur noch in einer zugelassenen Richtung, und Wahrheit war mit einem Schlage wiederum lediglich noch die Wahrheit der reinen Lehre. Der neuerliche Einbruch von Intoleranz, Ideologie, Argumentationsverweigerung und absoluten Wahrheitsansprüchen in der direkten Nachfolge von neomarxistischen, psychoanalytischen und am Ende unvermeidlich auch wieder lebensphilosophischen und irrationalen Heilsversprechungen und pseudoideologiekritischen Attituden, die allesamt dem neunzehnten Jahrhundert entstammten, kann gar nicht verstanden werden, wenn man nicht die orientierungslose Grundsituation jener Tage in Philosohie und Wissenschaft kennt. Waren es doch vor allem in Europa hauptsächlich Studenten der Sozialwissenschaften oder Psychologie, von Fächern also, für die Anfang der sechsziger Jahre überhaupt erst das Diplom eingeführt worden war. Gewiß waren diese Studenten in Deutschland z.B. ehrlich frustriert über den so unsäglich gequälten Dialog mit der Vätergeneration über das Dritte Reich. Gewiß glaubte auch viele, daß die Bundesrepublik nach den Notstandsgesetzen tatsächlich ein faschistischer Staat zu werden drohte, so wie es ihnen die Lehrmeister Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse eingeredet hatte, oder daß die USA mit dem Vietnamkrieg zu Imperialisten geworden wären, so wie es die kommunistische Propaganda der Zeit wahrhaben wollte, usw. Gewiß glaubten viele jetzt endlich Gieschichte "machen" zu können, mit Gerechtigkeit und Gleichberechtung erstmals in der Geschichte ernst machen zu können und dabei mit persönlicher Selbstverwirklichung in allen Lebensbereichen ein bisher ungeahntes Maß an Freiheit und Glück zu bewirken. Und viele waren auch davon überzeugt, über Nacht ungestraft der Leistungsgesellschaft den Rücken kehren zu dürfen um fortan nur noch dem Hedonismus zu fröhnen. Das alles hätte nicht diese geballten Auswirkungen weltweit haben können, wenn nicht die Fundamente das abendländischen Grundwissens morsch gewesen wären.

Der wichtigste Auslöser dabei war die Orientierungskrise in Wissenschaft und Philosophie. In den Wissenschaften der Gesellschaft begann sich das Parsonssche Versprechen einer universalen Leittheorie Anfang der sechziger Jahre langsam zu verflüchtigen und die unübersehbare Flut empirischer Faktenerkenntnisse schien immer unbeherrschbar zu werden, In der Philosophie erschien die Zerplitterung zwischen den Extremen engagierter existenzphilosophischer Innerlichkeit einerseits und unverbindlicher Distanziertheit analytischer Objektivität andererseits immer unerträglicher. Als sich in dieser Situation, durch eine vorgebliche Kritische Theorie proklamiert, ein Denken anbot, das versprach, Theorie und Praxis zu versöhnen und zudem gesellschaftlich kritisch und moralisch emanzipativ zu sein, da schien für viele Jungintellektuelle, die schon befürchtete hatten, als Betriebssoziologen nie eine Stelle zu finden oder als Psychologen und Psychotherapeuten an der eigenen Neurose scheitern zu müssen, sich eine ganz neue Welt zu eröffnen: Als Berufsrevolutionäre konnten Soziologen nun plötzlich die Gesellschaft nicht nur direkt beeinflussen, sondern vielleicht auch beherrschen, und als Sozialtherapeuten, so wie es Alexander Mitscherlich vorgemacht hatte, war die ganze Nation dauerhafter Anwärter auf die Couch von Psychologen. Als auf dem fünfzehnten Deutschen Soziologentag in Heidelberg 1964, der ausschließlich dem 100, Geburtstag Max Webers gewidmet war, unter der Regie der sogenannten Frankfurter Schule mit Herbert Marcuse als Schlußredner eine Totalabrechnung mit Weber vorgenommen wurde, (der angeblich nur technische bzw. kapitalistische Vernunft und imperialistische Machtpolitik vertreten haben sollte), - dem Podiumsreferenten vehement widersprachen, was das massenhafte jugendliche Publikam aber nicht von frenetischem Applaus für Herbert Marcuse abhielt,- da waren die Würfel gefallen. Es bedurfte fast zweier Jahrzehnte, bis Max Weber bei den Methodlogen der Sozial- und Geischtswissenschaften wieder einigermaßen rehabilitiert war, um wenigstens von diesen Vorwürfen freigesprochen zu werden. Bis es so weit war, kam es im Verlauf eines regelrechten Kulturkampfes zum zeitweisen Nebeneinander von zweierlei Wissenschaften, so als ob es soetwas überhaupt geben könnte; Einer angeblichen kritischen, die auch zur Gründung sogenannter "Kritischer Universitäten" durch Studenten führte, und einer sogenannten bürgerlichen, der alten nämlich. Aber weil eben echte Wissenschaft, d.h. Wissenschaft mit kontrollierbarem und potentiell allgemeingültigem Wissen, nur die bürgerliche, alte Wissenschaft war, die angemaßte kritische Wissenschaft aber in der Tat nichts anderes als ein Manipulationsinstrument von Ideologen und Kaderpolitikern sein konnte, mußte es immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen angeblicher Wissenschaftler kommen, die sich im Besitz von reiner Lehre und absoluter Wahrheit wähnten. Es gibt da eine gleitende Linie hin zum Terrorismus der RAF, insofern die Legitimation von Widerstandsgewalt durch "kritische" Wissenschaft immer freigiebiger wurde. Dank einer doch noch freien Öffentlichkeit lief sich das Projekt dieser angemaßten Pseudowissenschaft langsam tot, die Kosten aber waren horren: Das Land Bremen ist z.B. bis heute das höchst verschuldete Bundesland, auch weil seine Universitätsgründung als als reine "kritische Universität" sich schnell als Flop erwies. Von dieser Universität wollte niemand außerhalb etwas wissen, und so war bald ein Kurswechsel angesagt, aber die vielen vergebenen Planstellen waren in einem Beamtenstaat wie der Bundesrepublik nun einmal ein "point of no return".

Von diesem kollektiven irrationalen Vernunfteinbruch hat sich das Denken bis heute nicht erholt, auch wenn sich inzwischen vieles wieder eingerenkt hat und inzwischen längst geläuterte ehemalige Revoluzer ganz gesittet an den Hebeln der politischen Macht sitzen. Die neomarxistischen Wurzeln der Ideologiekritik wirken nach in den vielen autonomen Gruppierungen und milatanten ökologischen Bürgerinitiativen bis hin zu den Globalisierungsgegnern, nachdem zuvor viele in den terroristichen Untergrund gegangen waren, manche in die Idylle, wieder andere in die Parteien, um diese zu unterwandern (In der SPD ist das gut gelungen!), viele zu sogenannten K-Gruppen, die in Moskau- und Pekinganhänger gespalten waren, deren beider Ende also abgesehen werden konnte: Die Peking-Anhänger wendeten sich nach der Beseitiugung der sogenannten Pekinger Vierbande postwendend dem kurz zuvor entdeckten Kampf gegen die Kernkraftwerke zu, den Moskau-Anhängern blieb noch die Zeit bis zum Zusammnebruch des Sowjetregimes, der nur sehr verzögert zur Kenntnis genommen wurde. Die lebensphilosophischen Wurzeln der Ideologiekritik wirken nach in einer Postmoderne, die nur noch relative Wahrheiten anerkennt und die Welt nur noch ästhetisch, nicht mehr politisch verändern möchte. Die psychoanalytischen Wurzeln der Ideologiekritik gipfeln in einem esoterischen Kult, der sich in endlosen Milieus von Indien bis Kalifornien ausbreiten verbunden mit religiösen Heilslehren und medizinischen Heilspraktiken. Und in den USA haben wir es wie jeher mit einem christlichen Fundamentalismus zu tun, der sich in Opposition zu einer libertären Gesellschaft weiß und als Bollwerk für Werte und Pflichtbewußtsein in einem zunehmend dekadenten Laisser-faire. Da sich die Regierung von George W. Bush unverblümt zu dieser Denkrichtung bekennt, wohnt ihr eine latente gegenaufklärerische Dynamik inne, die vor allem die Medien in Europa in einem unvorhersehbaren Maß irritiert hat: Was soll man von jemandem halten, der selbstbewußt auf den eigenen Glauben pocht, und dabei gänzlich ignoriert, was andere Gläubige ihrerseits für Rechtens halten. Und wie soll überhaupt von der Position eines christlichen Fundamentalismus her (Bush würde sich wohl nicht als Fundamentalist bezeichnen!) eine Weltmacht in der Funktion einer Weltpolizei glaubhaft souverän sein können? Einer Macht, der von anderen Glaubenspositionen her unwidersprochen Kreuzzugsdenken vorgeworfen werde kann? Es ist klar, daß die geistigen Verwerfungen der Gegenwart entscheidend dadurch verusacht wurden, daß es immer noch keine glaubwürdige weltweite geistige Autorität gibt.

Am nachhaltigsten machen sich aber die Spätfolgen von 1968 in einer verantwortungslose Anspruchshaltung und mangelhafter charakterlicher Integrität ihrer Helden bemerkbar. Es ist klar, daß die Parole, "es ist alles da, es muß nur besser verteilt werden", nicht gerade als Ermunterung für Selbstverantwortung und Unternehmergeist gelten kann: Alle Probleme mit einem überbordenden Sozialstaat heute haben sehr viel mit dem Geist von 1968 zu tun. Und es ist auch klar, daß Leute, die im Namen der bestimmten Negation der Frankfurter Schule immer nur gelernt haben, gegen vermeintliche gesellschaftliche oder subjektive Zwänge zu opponieren, nie aber auch Farbe zu bekennen oder gar selbstreflexiv grundsätzlich auch einmal umzukehren, gewöhnlich nur taktisch gesellschaftliche und politische Probleme bewältigen werden. Wer mit dem Slogan aufgewachsen ist: "Macht kaputt, was euch kaputt macht!" weiß oft ganz genau, was er nicht will, aber nur selten was er tatsächlich will und überhaupt nie, was er der Allgemeinheit gegenüber zu verantworten hat. Nie wird man von den so Sozialisierten ein generelles Schuldbekenntnis bekommen (Srebrenica läßt grüßen!), nie wird man sie mit Erfolg daran erinnern können, daß sie in diesem Jahr mit derselben Überzeugungshaltung wie immer das genaue Gegenteil von dem von sich geben, als im Jahr zuvor. Und jetzt schaue man sich einmal die sogenannten Enkel Brandts der Reihe nach an: Engholm, Lafontaine, Scharping, Eichel, Schily, Schröder, von den kleineren Kalibern wie Stiegler, Poß, Scholz oder wie sie alle heißen, ganz zu schweigen! Alle lügen mehr oder weniger geschickt wie es paßt, weil sie gar nicht wissen wollen, was Wahrheit ist! Alle kehren sich nicht um ihr Geschwätz von gestern, weil das argumentative Rechtfertigung bedeuten würde! Alle wähnen sich immer im Einklang mit dem Zeitgeist und als Speerspitze aktueller Wertforderungen, weil man ja angeblich auf der unfehlbaren richtigen Seite sich befindet. Und alle haben nur ein Ziel im Auge: Den eigenen Machterhalt, weil sie nichts anderes gelernt haben. In diesem Pantheon muß Joschka Fischer geradezu wie eine Lichtgestalt wirken, weil er Lernprozesse glaubhaft zu machen und Vernunft, (nicht nur wie der Kanzler: Show) fast schon zu zelebrieren versteht: Aber auch er gehört dazu und hat im Irakkonflikt gezeigt, wie schnell es bei bestimmten Stimmungslagen auch um seine eigene ausgewogene Denkweise geschehen sein kann. Und ein Henning Scherf verhält sich vielleicht nur deshalb atypisch, weil bei ihm sein christlicher Humanismus von Anfang an nicht nur Beiwerk gewesen ist! Scherf ist jedenfalls ein glaubhaftes Beispiel dafür, daß sich auch Altachtundsechziger glaubwürdig ändern können. Aber können sie das schaffen, ohne iorgendwo eine religiöse Bekehrung über sich ergehen zu lassen? Von ihrer Vernunft her sind Altachtundsechziger jedenfalls wohl endlos an veränderte Realitäten anpassbar, aber kaum selbstreflexiv erneuerbar.

Natürlich ist das nur die eine Seite der ideologischen Szene, so wie es auch schon 1967 natürlich die Gegenseite des Widerstandes gab, der leider nur wenig organisiert war und von den geistigen Grundlagen auch leider unfähig, argumentativ überzeugend vorzugehen. Unübersehbar behauptete sich ein Neokonservativismus,der leider über die Anknüpfung an traditionelle religiöse Dogmen (Strauss) oder pseudojuristische Autoritätsbeschwörungen (Schmitt) nie hinauskam. Bedenkt man, daß etwa die von der Studentenrevolte gefeierten Ernst Bloch und Georg Lukacs, die beide noch Max Weber gut kannten, bedingungslos auch nach dem Zweiten Weltkrieg auf Lenin setzten, einen Demagogen, der niemals überhaupt auch nur im Ansatz bereit gewesen war, zu argumentieren, der Wahrheit theoretisch als Widerspiegelung der Materie kodifizierte um sie praktisch dem Politbüro seiner eigenen Partei zu überantworteten, dann fragt man sich doch, warum der bürgerliche Widerstand so zwiespältig und halbherzig geblieben ist. Gerade Personen, auf die sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit besonders richtete, haben damals keine Zivilcourage bewiesen. So haben reihenweise anerkannte Denker und und besonders populäre Politiker, von Carl Friedrich von Weizsäcker angefangen bis hin zu Gustav Heinemann und Willy Brandt, zu keinen adäquaten Antworten gefunde, auch. ZEIT, SPIEGEL und stern haben erst angesichts des Terrors der RAF zu klareren Aussagen gefunden. Wie sollte das auch anders sein, wenn da einer seine Fundamente bei Heisenberg, Heidegger und Viktor v.Weizsäcker wußte, der nächste in der christlichen Bergpredigt und der übernächste in einem humanistischen Marxismus, wie er ehrlicherweise bekannte. Unsere linke antiamerikanische Kampfpresse hat niemal das Ideologieproblem weder für seine Leser noch für sich geklärt, niemals im aufklärerischen Interesse etwa eine Titelgeschichte über Kant, Max Weber oder Wissenschaft gebracht. Der Marxismus wurde auch nicht eigentlich als Ideologie bekämpft, eher als Sozialidee interpretiert und als ursprüngliches morlisches Ideal gegen Mißverständnisse in Schutz genommen: Gerade so. als ob der Marxismus jemals eine vernünftige Philosophie gewesen wäre! Und dabei war Marx doch nur ein großartiger sozialwissenschaftlicher Denker, aber schon nur noch ein kleiner Ökonom, weil er die Ökonomie dogmatisch soziologisieren wollte, und überhaupt kein Philosoph, weil er lediglich im Schlepptau Hegels dachte und mit einer zu erkämpfenden klassenlosen Gesellschaft alle Probleme für gelöst suggerierte, so als ob sie dann nicht philosophisch erst recht anfingen! Aber es gab neben der CDU/CSU die Linie der Springerpresse, die mit ihren vier Forderungen, a) Aussöhnung mit dem Judentum, b) Antitotalitarismus, c) Soziale Marktwirtschaft und d) Wiedervereinigung im Rückblik alles Dämonisches einbüßt, was ihr damals, als erklärter Hauptfeind der APO, angehängt worden war. Und es gab auch damals schon viele eigenständige Denker, die wie Golo Mann, Helmut Tieleke, Hermann Lübbe, Helmut Schmidt und andere sich nicht gleichmachen ließen und ihre eigenen Erinnerungen an die NS-Zeit rechtzeitig warnend zur Disposition stellten. Und es gibt heute wie damals viele überzeugte Naturwissenschaftler, die weder von Ideologiekritik noch von Postmoderne etwas halten, und dafür immer noch auf eine Totalsynopse wissenschaftlichen Wisssens setzen und sich darum intensiv bemühen. Das alles aber steht so nebeneinander, daß ein gemeinsamer Grundkonsens von diesen Voraussetzungen her nicht möglich ist, die Eigengesetzlichkeiten der Kulturszene und des Feuilletons verstärken noch diese Differenzen. Die einzige Basis für eine wahre Verständigung ist die Wirklichkeit. Es ist jetzt die Zeit für einen abermaligen Neuanfang!

IX. Zusammenfassung:

Was sich hier unter dem Stichwort "Ideologie" zu einer ganz kleinen Philosophiegeschichte ausgeweitet hat, folgte einem roten Faden, den man den roten Faden der Vernunft nennen kann. Denn wie soll sich Vernunft behaupten können, wenn sie der Waffe des Argumentes beraubt ist und Wahrheit nicht mehr als Kriterium bemühen darf? Wenn Hegel in der Geschichte eine Dialektik am Werk gesehen hat, dann haben wir hier eine Dialektik kennengelernt, die nicht mehr die eines fiktiven Weltgeistes ist, sondern die der kämpfenden Vernunft: Vernunft und Gegenvernunft im Wechselspiel. Natürlich handelt es sich deshalb bei diesem Rückblick auch nur um nachprüfbare, kontrollierbare und diskutierbare Gedankenkonstruktionen, d.h. Idealtypen im Sinne Max Webers, denn die Zeit der Hegelschen Wesensbegriffe ist vorbei, es gibt keinen Weltgeist, in dessen Geheimnisse wir eingeweiht wären. Der unbedingte Bezugspunkt ist ein unvoreingenommenes Wirklichkeitsverständnis, wofür wir Platon als ersten Repräsentanten exemplarisch genannt haben und Kant als seinen würdigen Interpreten zweitausend Jahre später. Die Begründungen dafür kann jeder für sich nachvollziehen und kontrollieren. Wenn der erklärte Kantianer (Neukantianer?) Herbert Schnädelbach in seiner Abschiedsvorlesung an der Berliner Humboldt-Universität kürzlich die Bemerkung machte, die überzeitliche Hochschätzung Platons sei ihm ein Rätsel, dann müßten die obenstehenden Zeilen gezeigt haben, daß sie alles andere als ein Rätsel ist.

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Letzte Änderung dieser Seite: 12.10.2003