Wirklichkeit ist die unhintergehbare Grundvoraussetzung von allem.
Warum ist das so?
Weil etwas wirklich sein können muß, um überhaupt möglich zu sein.
Und was heißt dabei "unhintergehbar"?
Was wir auch immer versuchen, um etwas Umfassenderes als Wirklichkeit zu denken, scheitern wir. Wir werden stets es mit Worten zu tun haben, die ohne Wirklichkeit gar nicht möglich sind. Umgekehrt gibt es kein Wort, das Wirklichkeit selbst möglich machen könnte.
Aber ich kann mir doch etwas anderes als Wirklichkeit denken!
Wie denn? Die Negation von Wirklichkeit wäre die Unwirklichkeit. Aber welchen Sinn soll dieses Wort haben, wenn damit zugleich die Bedeutung verbunden sein soll, nichts Wirkliches zu sein? Unwirklichkeit ist entweder auch etwas Wirkliches, eben als Unwirkliches, oder es handelt sich um einen nicht zu Ende gedachten Gedanken.
Aber der Name "Unwirkliches" bezeichnet doch etwas Bestimmtes, oder nicht?
Eben nicht! Um Wirklichkeit eine Bestimmung zu geben, muß ich alles meinen. Wenn ich Unwirkliches so bestimmen will, muß ich alles nicht meinen. Wie soll aber alles nicht Meinbare etwas Bestimmtes sein können?
Aber ich brauche dabei doch nur die Wirklichkeitsbestimmung zu negieren, um Unwirkliches zu bestimmen!
Aber dabei bleibt doch ein wichtiger Unterschied: Wenn ich sage, Wirklichkeit sei immer Welt, müßte ich bei Unwirklichkeit von Nicht-Welt sprechen. Was Nicht-Welt heißen soll ist aber gänzlich offen. Was ich mit Welt meine, kann ich genauer angeben. Was aber Nicht-Welt heißen soll, führt ins Uferlose.
Welt wäre also auch eine Grundvoraussetzung für Wirklichkeit, Nicht- Welt nicht?
Warum sollte das auch anders sein? Das Wort "Nicht-Welt" bezieht seinen Sinn allein aus der Negation von Welt. Welt ist also die Grundvoraussetzung für Nicht-Welt. Nicht-Welt ist aber keine Grundvoraussetzung dafür, daß wir uns auf "alles" beziehen können.
Und was heißt nun "Grundvoraussetzung"?
Es ist das, was jedermann als selbstverständlich entweder unausgesprochen unterstellt oder ausgesprochen begründet. Meistens aber wird unausgesprochen eine Menge unterstellt, ausgesprochen nur weniges begründet.
Was ist das Selbstverständliche?
Was jedermann faktisch voraussetzen muß, wenn er Behauptungen aufstellen und argumentieren will. Darüber aber, was das sein soll, hat es in der Geschichte der Philosophie bis heute nie eine Einigung gegeben.
Wieso hat es diese Einigung nie gegeben?
Weil es keine Einigung darüber gegeben hat, was die Wirklichkeit des Selbstverständlichen als die Selbstvertändlichkeit des Wirklichen ist.
Was ist denn das Selbstverständliche "in Wirklichkeit"?
Das Selbstverständliche "in Wirklichkeit" ist nichts anderes als die Wirklichkeit selbst, die jedem begegnet, die Beständigkeit garantiert und sich trotzdem wandelt, über die man sich verständigen kann und die doch zugleich für jeden einzelnen etwas Besonderes ist.
Wieso ist die Wirklichkeit als das Selbstverständliche nicht erkannt worden?
Weil seit den ersten Philosophen stets etwas bestimmtes Wirkliches für die Wirklichkeit selbst gehalten wurde. Und weil es vieles bestimmtes Wirkliches gibt, gibt und gab es deshalb auch viele unterschiedliche Meinungen über die Wirklichkeit.
Aber warum haben die vielen unterschiedlichen Meinungen Wirklichkeit verfehlt?
Weil sie alle davon ausgegangen sind, Wirklichkeit als etwas Bestimmtes ausweisen zu müssen, aber keiner begriffen hat, daß Wirklichkeit selbst gar nicht als etwas Bestimmtes ausgewiesen werden kann, sondern als die Voraussetzung aller möglichen ausweisbaren Bestimmungen hingenommen werden muß.
Aber wie kann Wirklichkeit als sie selbst einfach hingenommen werden?
Indem man sich auf sie einläßt und Vorurteile so gut es geht zu eliminieren sucht. Man muß sich bei allem, was man für wirklich hält, stets nach den Voraussetzungen fragen, unter denen man das Wirkliche so erfährt, wie es erscheint.
Aber was sind die grundsätzlichen Voraussetzungen dafür, daß wir Wirklichkeit erfahren?
Diese liegen auf der Hand: Wir selbst sind es, die Wirklichkeit realisieren, und die Welt muß es geben, damit wir das können, es muß sich etwas ereignen, damit wir die Welt zur Kenntnis nehmen können und es bedarf repräsentativer Kriterien, die Kenntnisnahme zu protokollieren. Die unbedingte Voraussetzung aber ist, daß wir die Wirklichkeit nicht ausschließlich aus einer der genannten Perspektiven als sie selbst wahrnehmen.
Aber was ist dabei die argumentative Evidenz, die für Überzeugung die letzte Instanz ist?
Wenn Argumente das Letzte sind, von dem wir uns überzeugen lassen, dann müssen diese sich doch auf etwas beziehen können, um möglich zu sein. Argumente sind aber nur dann treffend, wenn sie sich auf die Sache beziehen. Die Sache der Argumente kann sehr unterschiedlich sein, so unterschiedlich wie die Wirklichkeit selbst ist. Gerade, weil Argumente die letzte Instanz diskursiver Verständigung sind, ist Wirklichkeit dafür der ausgewiesen weiteste Begriff überhaupt, der nicht mehr hinterfragbar ist. Wirklichkeit und Argumente gehören zusammen!
Aber wie gehören Wirklichkeit und Argumente zusammen?
Argumente beziehen sich auf eine Sache, und der Inbegriff aller Sachen ist die Wirklichkeit. Sowenig wie es keine formale Einschränkung der Argumente gibt, (von Regeln der Logik und Grammatik sowie Metaphysik abgesehen), sowenig gibt es eine Bevormundung der Wirklichkeit. Wirklichkeit und Argumente gehören vielmehr konstitutiv so zusammen, daß Argumente immer auf Wirkliches zielen, Wirklichkeit umgekehrt stets Argumenten offen steht.
Und und was ist die Wirklichkeit argumentativ?
Es ist das, was schlechthin nicht mehr hinterfragbar ist, mithin der weiteste Begriff überhaupt. Wirklichkeit ist argumentativ das, was, in letzter Instanz sich als unhintergehbar erweist. Es ist das, was von jedermann als selbstverständlich anerkannt werden "muß", weil es keine plausiblen Argumente dagegen gibt..
Aber was ist die "voraussetzungslose" Wirklichkeit?
Die gibt es nicht, weil alles, was wir denken können, Voraussetzungen hat. Genau das aber vermögen wir zu denken, und deshalb können wir uns auch eine "voraussetzunglose" Wirklichkeit vorstellen, die vor allen ihrer Unterstellungen liegt. Es ist das, was Welt. uns selbst im Ereignis und Verständnis zusammenhält. Sie selbst ist alles zusammen, aber keines der einzelnen.
Kann die Wirklichkeit also nur negativ bestimmt werden?
Ja und nein. Auf der einen Seite ist sie alles das, was unseren Vorstellungen von Wirklichem vorausliegt, weil sie alles Wirkliche konstituiert. Sie kann also nur negativ bestimmt werden. Auf der anderen Seite können wir doch sagen, was wir mit Wirklichkeit meinen, wenn wir dem Wort eine bestimmte Bedeutung geben wollen. Das aber ist notwendig, damit wir überhaupt mit dem Wort "Wirklichkeit" einen bestimmten Sinn verbinde und nicht alles Beliebige.
Aber was ist dann im positiven Sinn die Wirklichkeit selbst?
Sie ist das, was alles ist, insofern uns die Wirklichkeit allein alles zugänglich macht. Was nicht wirklich ist, gibt es nicht. Das sogenannte "Unwirkliche" ist ein Selbstwiderspruch in sich, weil auch etwas Unwirkliches nur dann etwas "ist", wenn es wirklich ist. Wirklichkeit im positiven Sinn ist alles, weil alles nur wirklich möglich ist.
Wieso ist die Wirklichkeit "alles"?
Weil nichts sich denken läßt, das nicht wirklich ist. Es läßt sich vieles denken, was möglicherweise in einer anderen Welt lokalisiert ist, es läßt sich auch vieles denken, was ohne uns geschieht. Man kann sich vorstellen, daß es andere Denkweisen, Grammatiken und Logiken gibt, als die unseren, und man kann sich auch denken, daß zu irgendeiner zukünftigen Zeit alles mögliche heute noch Unvorstellbare sich ereignet: Was immer so bezeichnet wäre, es handelte sich doch entweder um etwas Wirkliches, oder aber um reine Phantasien, die als solche natürlich auch wirklich sind, aber nur so!
Wie kann die Wirklichkeit vor Gott alles sein?
Wenn Gott "wirklich" ist, dann ist die Wirklichkeit Gottes Schöpfung und Gott das Wirklichste des Wirklichen, mithin die Wirklichkeit par excellence. So wenig, wie die Wirklichkeit selbst für uns ganz verständlich ist, so wenig ist sie es für uns in ihrer Möglichkeit und Herkunft. Wenn wir das letzte Geheimnis der Wirklichkeit mit Gott bezeichnen, dann haben wir damit lediglich alle offenen Fragen expliziert, die mit "Wirklichkeit" konstitutiv verbunden sind.
Wie kann die Wirklichkeit alles sein, wenn alles wirklich ist?
Es kommt darauf an, als was die Wirklichkeit alles ist. "Alles" heißt ja nicht, daß alles gleich ist. Die Wirklichkeit ist alles, was "es gibt". Und das, was es gibt, ist alles wirklich. Aber was es gibt, ist "in Wirklichkeit" als etwas Wirkliches höchst unterschiedlich. Diese Unterschiede zu entfalten, ist Aufgabe einer Wirklichkeitsanalyse.
Aber wie kommt der Unterschied in die Wirklichkeit?
Darauf gibt es nur bedingte Antworten, keine erschöpfende, denn das hieße dem Schöpfer in die Karten schauen können. Wir können analytisch allgemeine Zuordnungen treffen, rückblickend Entstehungszusammenhänge rekonstruieren und interpretierend Wertmaßstäbe anlegen: Stets bewegen wir uns dabei innerhalb von Grenzen, die als sie selbst für uns ein Wunder sind.
Und wie drücken sich die Unterschiede als etwas Wirkliches aus?
Im Medium von Bedeutungen als Bedeutsamkeiten.
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HISTORISCHES:
Selbstverständliches vorauszusetzen, wenn "Alles" verstanden werde soll, ist seinerseits eine Selbstverständlichkeit, denn irgendetwas muß ja als Ausgangspunkt dienen. Im magischen Denken war es das unmittelbar erlebte Naturgeschehen, dessen Teil man war. Im mythischen Denken verband sich mit der unmittelbar erlebten Natur eine kulturell vermittelte Sinntradition, die alles verständlich zu machen vermochte. Mit dem Aufkeimen der Frage nach dem wahren Mythos in der "Achsenzeit" (Jaspers) wurde als selbstverständlich vorausgesetzt, was sich in einer bestimmten mythischen Tradition als einheitsstiftende Totalerzählung herausschälte: In China, Indien, Persien, Israel und Griechenland.
In der Weiterentwicklung der mythischen Erzählungen von Homer und Hesiod fragten so die ersten griechischen Philosophen direkt nach dem, was die Wirklichkeit als die Natur (physis) selbstverständlich erklärbar machen könnte. Parmenides und Heraklit stießen dabei auf den Begriff (logos), ohne den nichts Beständiges gedacht werden kann, es galt also, den wahren "Logos" der Natur zu finden. Das dabei selbstverständlich Vorausgesetzte war eine Natur, deren Ordnung einem Logos folgend als tragende Lebensbasis erkannt worden war. Seit Solon wurden in diesem Zusammenhang Gesetze (nomos) der Polis auf das Ganze der Natur übertragen. Mit Platon wurde das Insgesamt der Gesetzlichkeit (nomos und logos) zur Grundfrage, deren diskursive Erörterung direkt zur Entfaltung der Dialektik führte.
Für Platon war das selbstverständlich Vorausgesetzte der ganzen Natur die dialektisch erschlossen Idee, die sich bei Aristoteles zur bleibenden Substanz der natürlich gefundenen Grundgegebenheiten wandelte. Nachdem mit dem Einbruch des Christentums das Selbstverständliche zur Offenbarung eines transzendenten Schöpfungsgeschehens wurde, schwankten die Interpretatoren bis hin zur Entdeckung der modernen Naturwissenschaft zwischen einer Position, die mehr mit Aristoteles den Akzent auf die Schöpfung und ihrer natürlichen Bestandteile legte, und der anderen (bis zum Mittelalter dominierenden), die mit Platon die Trandzendenz und ihre ideelle Vermittlung als das selbstverständlich Vorgängige voraussetzt. Descartes und Leibniz versuchten noch beide Aspekte zu vermitteln. Erst Kant bewirkte ein ganz neues Verständnis des Selbstverständlichen: Indem er systematisch nach dem fragte, was wir wissen können und was nicht, wurde ihm das Selbstverständliche zu dem, was innerhalb unserer Grenzen des Erkennbaren lag. Seitdem stellt sich das Problem des Selbstverständlichen als die Frage nach dem, was die Wirklichkeit als etwas Wirkliches imnnherhalb unserer Erkenntnisschranken ist.
Bis heute aber ist der Streit darüber, was die Wirklichkeit als je etwas Wirkliches und Selbstverständliches ist, nicht beendet, weil einmal noch niemand die Wirklichkeit selbst als letzte Grenze des Wißbaren explizit festgehalten hat, zum anderen immer wieder unterschiedliche Wirklichkeitsbereiche mit der eigentlichen Wirklichkeit verwechselt werden. Bis heute streiten sich die Philosophen darüber, was als die eigentliche selbstverständliche Ausgangswirklichkeit gelten soll: Ob die physikalische, biologische, psychische, soziale, historische, pragmatische, phänomenale, strukturelle, logische, sprachliche, textliche, informative, oder doch - gegen Kant - die transzendente? Der späte Martin Heidegger hat in diesem Streit versucht, an ein vorsokratisches Denken anzuknüpfen, für das Platons Ideen noch inexistent gewesen sind, ist dabei aber über kryptische Interpretationstiefen nicht hinausgekommen.
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