Geschichtswirklichkeit

Wirklichkeit ist geschichtlich und wird in der Geschichte aus einem je offenen Horizont heraus verstanden. Insofern auch jeder Wirklichkeitshorizont seine eigene Geschichte hat, gilt es, sich dessen zu vergewissern, was den Horizont als Grenzsituation des Verstehenkönnens überhaupt kennzeichnet. Metaphysisch besteht die Aufgabe, das, was es philosophisch zu erforschen, zu klären und zu besinnen gilt, richtig zu orten und letztendlich einzuordnen. Dazu die folgenden Hinweise:

Metaphysische Wirklichkeitsbestimmung in der konkreten Situation spottet jeder allgemeinen empirischen Erklärung, intersubjektiven Vorschrift, subjektiven Vorurteilshaftigkeit, ereignishaften Plausibilität und spekulativen Vorgabe: Sie ist jederzeit individuell und im Detail unverrechenbar. Es bleibt allein, sich jeweils gegenwärtig in der geschichtlichen Wirklichkeit zu orientieren, so weit es geht. Dazu gibt es jeweilige Vergangenheit und jederzeitige Zukunft.

Wirklichkeit ist ein Geschehen, in dem die Welt sich ständig ändert, die Beobachter kommen und gehen, jeden Augenblick neue Situationen herrschen und der Horizont für Erfahrungen und Urteile aller Art sich kontinuierlich verschiebt. Alles zusammen stellt sich auch das Gesamtgeschehen der Reflexion ständig neu dar. Wandel ist aber noch nicht Chaos, es gibt auch relativ Beständiges, sonst wäre ein Denken der Geschichte nicht möglich

Der grundsätzlich ereignishafte Charakter der Wirklichkeit versetzt uns bei ständig sich erneuernden Gesamthorizonten notwendig in die Grenzssituation permanent neuer Situationen, die verifiziert und bewältigt werden müssen. Geschichtliche Wirklichkeit ist zu jeder Zeit neu und im Blick auf die beteiligten Subjekte authentisch. Das heißt nicht, daß sich nicht vieles in der Geschichte ähnlicherweise wiederholt, weil es auch mehr oder weniger dauerhafte Strukturen gibt

Um verstehen zu können, was "wirklich" ist, muß man die naturgeschichtlichen, alltäglichen, philosophischen, politischen, wissenschaftlichen, technischen usw Hintergründe kennen, aufgrund deren möglich wurde, was in jeweils bestimmten Konstellationen und Situationen mehr oder weniger entschieden faktisch geschehen ist und geschieht. Insofern dise Hintergründe ihrerseits Hintergründe haben, lassen sich Grundlinien rekonstruieren, die Situationsvergleiche möglich machen.

Die geschichtliche Wirklichkeit begreift nur derjenige zureichend, der die Nichtselbstverständlichkeit ihres Zustandekommens begründend einzusehen vermag. Deshalb bekommt alles Gegenwärtige erst Leben, wenn es im Kontext bestimmter Entstehungsprozesse verständlich erlebbar wird. Insofern aber die Geschichte immer auch zugleich Gegenwart ist, gibt es über die vielen unterschiedlichen Situationen hinaus etwas Verbindendes, an das Vergleichsbetrachtungen sich halten können.

Um Geschichte in ihrer Einmaligkeit zu verstehen und erklärend rekonstruieren zu können, müssen alle empirisch zugänlichen Kausalpotentiale in ihrer vielfältigen Verflochtenheit auf jeweilige isolierte Wirkungen hin untersucht werden. Welche Kausalfaktoren ganz bestimmte tatsächliche Zusammenhänge entscheidungsmäßig bedingen, zeigt sich bei der Herausarbeitung objektiver Möglichkeiten, ohne deren ganz bestimmte Ursachenbündelung bestimmte Folgeereignisse nicht hätten stattfinden können.

Ursächlich verantwortlich für Geschehensabläufe im Sinne objektiver Möglichkeiten sind a) in der anorganischen Natur bestimmte Systemkonstellationen, die neue Kausalketten auslösend in Gang setzen können, b) in der organischen Natur Überlebenskämpfe von Biotopen, Populationen und Gattungen, c) in der Menschengeschichte Umweltbedingungen, gesellschaftliche Strukturen, wirtschaftliche Potentiale, Interessenlagen, individuelle Eigenschaften und Dispositionen, d) zufällige Begegnungen von Individuen, Kulturen und Techniken, aber auch e) geistige Paradigmen, in denen ein Denken grundsätzlich beheimatet bleibt, kommunikative Problemkonstellationen, kreative Einfälle und vieles andere mehr.

Je nach Frageausgang und Problemrichtung lassen sich erkenntnismäßig unterschiedliche Geschichtsstränge rekonstruieren, die streng aussgegrenzt aussagekräftige Informationen über ursächliches Geschehen im beschränkten Zusammenhang vermitteln können, ihre operationale Isolierung von dem Gesamtgeschehen aber mit dem Preis bezahlen, überhaupt nur noch bedingte, keine unbedingte Prozesse mehr in den Blick zu bekommen.

Ursächlicher Fortschritt in der Geschichte kann deshalb nicht grundsätzlich unterstellt, sondern muß empirisch erschlossen und vermittelnd beurteilt werden. Denn einmal muß das als fortschrittlich Befundene begründet bewertet werden, und andererseits fordert im realen Geschehen jedes Fortschreiten einen Preis, dessen Kosten verrechnet werden müssen. Jeder sogenannte Fortschritt kann außerdem noch nachhaltig unerkannte Risiken bergen, kann zu Um- und Irrwegen führen, nicht selten auch Rückschläge provozieren und in gänzlichem Stillstand oder gar völligem Verlöschen sein Ende finden. Man denke an den vielschichtigen Verwirrgang der globalen Evolution!

Fortschrittsziele können nicht teleologisch aus der Empirie induktiv erschlossen werden, sondern bedürfen einer rationalen Wertdiskussion (Max Weber), um konsensfähig sein zu können. Es gilt dabei, ein universales Entwicklungsbild zu entwerfen und vernünftig so zu begründen, daß ein Fortschreiten im positiven Sinn sowohl als Schöpfungssprozeß als auch als Menschheitswille überzeugen kann.

Als bewertungsunabhängige universale Fortschrittskonstanten, lassen sich rückblickend im Schöpfungsprozeß die zunehmende Differenzierung, Komplexität und Rationalisierung der Welt beobachten, umgekehrt, vom Menschheitswillen her gesehen, bei zunehmenden Wahlangeboten und stimulierenden Reflexionszwängen, wachsende Vielfalt und Individualisierung der Tträger. Der Logik dieser objektiven und subjektiven Fortschrittskonstanz entspricht das, was Max Weber einmal die "Entzauberung der Welt" genannt hat. Zu beiden Konstanten können wir uns bewertend verhalten, sie zu bekämpfen heiße aber einen Bruch mit aller bisherigen langfristigen Entwicklung.

Im Unterschied zu Fortschrittsbegründungen im gesellschaftlichen, politischen, technischen, ökonomischen, ja auch moralischen Bereich, die alle anhand von einsehbaren Nutzenüberlegungen konsensfähig gemacht werden müssen, kann philosophischer Fortschritt nur an der Höhe und Weite gemessen werden, den das Bewußtsein überhaupt im denkenden Umgang mit der Wirklichkeit erreicht.

Paradigmatische Bewußtseinsstufen der Menschheit, die ontogenetisch entsprechend noch heute von jedem Einzelnen vom Zeitpunkt seiner Geburt an durchlaufen werden müssen, wenn er "erwachsen" werden will, sind a) das magische Bewußtsein aller Naturvölker (Weihnachtsmannglaube) , b) das mythische Bewußtsein in Hochkulturen (Märchenbewußtsein) , c) das universalisierend weltanschauliche Bewußtsein (Jaspers) der großen Philosophien und Weltreligionen nach der Achsenzeit (Einheitsbewußtsein), d) das empirisch realistische Bewußtsein der Moderne (sogenanntes Realitätsbewußtsein) und schließlich e) das selbstreflektierte Wirklichkeitsverständnis nach der Aufklärung, das die historischen Bewußtseinsstufen als Voraussetzungen seines eigenen möglichen Existierens zu begreifen vermag und als reflektiertes Selbstbewußtsein argumentativ zur Anschauung bringen kann (Reflexionsbewußtsein).

Universale Philosophiegeschichte kann an Hand dieser Bewußtseinsstufen als ein Fortschrittsprozeß beschrieben werden, der tendenziell immer mehr Teilbereiche aus einem ursprünglichen Ganzen ausdifferenziert und selbständigen Begründungszusammenhängen überläßt, um sich immer konsequenter der grundsätzlich klärenden Reflexion des Ganzen und der Frage nach der Integration der Teilbereiche in das Ganze zu widmen. Gute, weil wahrhaftige Philosophie konkurriert heute nicht mehr mit bestimmten Wissenschaften, sie reflektiert sie und gibt ihnen als die institutionalisierte Aufklärung par excellence die Orientierung.

Universale Wissenschaftsgeschichte kann dementsprechend als ein Fortschrittsprozeß beschrieben werden, in dem die spezifischen, unersetzlichen Eigenschaften intersubjektiv evidenter Objektivität tendenziell immer präziser zum Tragen kommen und in immer spezifischeren Bereichen passend zur Anwendung gebracht werden. Desgleichen ein Prozeß, der transdisziplinäre Integrationsversuche spezialwissenschaftlich immer genauer empirisch kontrollierbar macht und philosophisch immer grundsätzlicher klärbar werden läßt. Wissenschaftsgeschichtlicher Fortschritt bedeutet zunehmende Weltbeherrschbarkeit

Universale Kulturgeschichte ist ein Fortschrittsprozeß, der tendenziell immer komplexere gesellschaftliche Gebilde möglich macht, diese in selbtständige Teilbereiche ausdifferenziert, ihre Steuerungsfunktionen kapazitätsmäßig steigert und die Selbststeuerung des Ganzen im Interesse der Vermehrung von Freiheit, Gerechtigkeit, Wohlstand und Bildung in Gang bringt. Produktivere Wirtschaft und effektivere Technik spielen dabei eine zunehmend einflußreiche Rolle, sind aber keine Garanten für ausbleibende Katastrophen: Kulturgeschichte kann unter bestimmen Voraussetzungen kollabieren und die Menschheit, wenn es noch Überlebende geben sollte, auf das Zustandsniveau ihrer zivilisatorischen Anfänge zurückwerfen. Das aber verweist auf die Politik. Kulturgeschichtlicher Fortschritt bedeutet wachsende Sensibilität für Friede in der Ereignisbewältigung.

Universale Politikgeschichte ist trotz aller Umwege und Rückschläge letztendlich doch ein Fortschrittsprozeß, in dem tendeziell das Bewußtsein von Freiheit und den Bedingungen ihrer Möglichkeit in der Welt reflektierter begriffen wird und sich zu behaupten versteht. Der Weg von der Etablierung des Rechts (isonomia) durch Solon in Athen, über die Entwicklung der attischen Demokratie, den Erfahrungen mit der römischen Republik, dem englischen Parlamentarismus, der amerikanischen und französischen Revolution bis hin zu den Lehren, die eine zivilisierte Menschheit nach dem Auftreten des Totalitarismus des zwanzigsten Jahrhunderts mehrheitlich gezogen hat, kann als ein Weg begriffen werden, auf dem die Bedingungen der Möglichkeit für die Rahmenbedingungen von Freiheit und Verantwortung immer bewußter werden und (hoffentlich) sich auch bewußter gestalten und dauerhafter institutionalisiern läßt. Politischer Fortschritt bedeutet zunehmende Herrschaft des Arguments in der Konfliktbewältigung.


home | Begriffssystem | Kommentare | e-mail | WIRKLICH-FORUM
Letzte Änderung dieser Seite: 02.05.2003