Letztes Bestimmtes als bestimmtes Letztes

Wirkliches ist in seiner Wirklichkeitsbedeutung bestimmt getroffen, wenn deren Sinn in seiner möglichen Wirklichkeit als auch unterschiedenen Eigenständigkeit Selbstwidersprüchlichkeit vermeidet.

Woran erkennt man die Selbstwidersprüchlichkeit einer Wirklichkeitsbedeutung?

Einmal natürlich daran, daß die Zuschreibung nicht direkt eine Bedingung der Möglichkeit für Wirklichkeit ist, sondern etwas nur zufällig Wirkliches, so wie Luft oder Wasser usw. Zum anderen aber auch daran, daß exakt alle Bedingungen genannt werden, die Wirklichkeit möglich machen. Ist das nicht der Fall,zeigt sich der Widderspruch als Lücke.

Wie macht sich eine Bestimmungslücke in der Wirklichkeitsbedeutung bemerkbar?

Der explizierbare Wortsinn wird widersprüchlich, weil defizient, und tritt damit in Gegensatz zu der intendierten Ausgangsbedeutung. Man muß dann für die Ursprungsintention einen neuen Namen suchen.

Kann das an einem Beispiel verdeutlicht werden?

Wenn z.B. in der Wirklichkeitszuschreibung das Subjekt als Adressat wer auch immer fehlt, ist Wirkliches nicht bezeugbar, also auch nicht sicher etwas Wirkliche, demnach etwas anderes. Wenn sich das Wort auf nichts mehr bezieht, das man in irgendeiner Welt dafür angeben könnte, ist Wirkliches nicht ausweisbar, also auch nicht bestimmt identifizierbar, demnach etwas anderes usw.

Wenn Wirklichkeit aber alles ist, wie könnte defizitär bestimmtes Wirkliches noch etwas anderes sein?

Es ist in der Tat kaum möglich, einen anderen Namen für Wirklichkeit zu finden, der etwa die Beglaubingung oder die ausweisbare Beziehung fehlt. Es handelt sich eben um Sinnwidriges, das als solches etwas Wirkliches ist und dem man nactürlich auch einen Namen geben kann.

Wie zeigt sich das Defizitäre bei genauer bestimmtem Wirklichen?

Fehlt im genauer bestimmten Wirklichen etwas für Wirklichkeit Konstitutives, kann es "in Wirklichkeit" auch nichts anderes Wirkliches namentlich bedeuten. Handelt es sich aber lediglich um vordergründige oder ganz unzureichende Vermittlungsangaben, die den Wirklichkeitscharakter ihrerseits nicht grundsätzlich tangieren, dann kann es sehr wohl sein, daß die Verfällschung so weit geht, daß eigentlich etwas ganz anderes gemeint ist, das es auch gibt.

Kann das genauer erklärt werden?

Wenn z.B. bei direkten Bedeutungsangabe von "Verständigung" als etwas Wirklichem der Rahmen zu weit oder zu eng gesteckt ist, kann damit sehr wohl etwas anderes, denn Verständigung gemein sein. Setzen wir Verständigung etwa zu weit erläuternd als etwas Intersubjektives an, können Beziehungen mitgemeint sein, die alles andere denn verständigend sich auswirken. Setzen wir sie zu eng beispielsweise mit Philosophie gleich, dann handelt es sich um eine ganz besondere reflektierte Verständigung im Allgemeinen, womit vieles, was sonst noch Verständigung ausmacht, willkürlich ausgeklammert wäre.

Zu enge und zu weite Namensbedeutungen widersprechen sich also, indem sie Bedeutungsbezüge verfehlen?

Wird Verständigung zu weit mit "Intersubjektivität" gleichgesetzt, statt nur auch als etwas Intersubjektives, handelt es sich nicht mehr um das Gemeinte, sondern um das, was insgesamt zwischen Subjekten wechselwirkt. Soll sie zu eng "Philosophie" sein, dann unterstellen wir, daß in jeder Verständigung allgemeine Reflexionen stattfinden müssen.

Das Gemeinte wäre aber auch in diesem Fall noch von den Bedeutungsangaben unterschieden?

Natürlich, Verständigung wäre als notwendig intersubjektivitätsstiftend viel mehr als Verständigung, nämlich auch sprach-, sinn-, -kommunikations- und gesellschaftsstiftend, mithin ein verborgendes teleologisches Prinzip, das im Hegelschen Sinn die ganze Wirklichkeit als eine geistige Wirklichkeit zustande brächte. Und als notwendig philosophierend würde Verständigigung "in Wirklichkeit" als eine Wahrheitssuche unterstellt, was dazu verführte, alle Kommunikation nur noch unter wahrheitsspezifischen Gesichtspunkten zur Kenntnis zu nehmen.

Widerspruchsfreiheit zeigt sich also an der Vollständigkeit der Wirklichkeitsbedingungen und Korrektheit der Namensfindungen?

Was etwas Wirkliches ist, zeigt sich an der vollständigen Berücksichtigung seiner Wirklichkeitsvoraussetzungen als auch an der präzise unterschiedenen namentlichen Bedeutungseigenschaften. Die Was-Frage zielt auf Minimalbedingungen des Wirklichen und Individualunterscheidungen vom Wirklichen.

Kann man so sagen "was" Gott ist?

Wenn dabei das Wort "ist" nicht falsch verstanden wird, ja. Wir können natürlich nicht sagen, ob Gott existiert und als was. Wenn er aber existiert und bestimmt existiert, dann können wir mit den Minimalbedeutungen von Wirklichkeit überhaupt angeben, als was wir ihn bestimmt von anderem Wirklichen "in Wirklichkeit" denken können. Wenn es Gott gibt, dann hat er für uns diese und jene genau unterschiedene Wirklichkeitsbedeutung. Über alles Weitergehende darf spekuliert werde, überschreitet die Feststellung von Wirklichkeitsbedeutungen.

Und für Freiheit etwa gilt Ähnliches?

Auch bei Freiheit entscheidet die Bedeutungsanalyse nicht, ob es Freiheit in einem letzten metaphysischen Sinn als konstitutives Einschalten in die Notwendigkeit tatsächlich gibt. Ob wir bei der Bewältigung des Möglichen auch vor Gott tatsächlich handelnde Akteure sind, ist eine metaphysische, keine explikative Bedeutungsfrage. Diese stellt lediglich fest, was die Minimalbedeutungen von Freiheit "in Wirklichkeit" genau sein müssen, wenn wir uns Freiheit als etwas Wirkliches denken. Daß Verantwortung ohne Freiheit nicht möglich ist, Wirklichkeit aber in letzter Instanz von uns zu verantworten ist, (so auch diese Zeilen), kann uns sehr eindringlich vor Augen führen, welche Bedeutung das mit dem Wort "Freiheit" Gemeinte für uns hat.

--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

HISTORISCHES.

Als Platon in seinen Dialogen die Wasfrage stellte, ging es ihm um den Logos einer Sache als Idee: Was ist die Tugend an sich, die Liebe, die Polis usw in ihrer wahren Identität, nicht als dies und jenes, als Tapferkeit oder Gerechtigkeit z.B,, als sinnliche oder geistige Liebe, als Timokratie oder Demokratie. Es galt den Minimalbestand an Wesenheiten zu finden, durch die viele Erscheinungsweisen einer Idee ihre identische, wertbezogene Bedeutung bekommen. Platon achtete in seiner Analyse auf Selbstwidersprüchlichkeit von Bedeutungskomponenten, da ihm aber nicht Wirklichkeit, sondern jeweils nur etwas Wirkliches als Idee zum Bestimmungsgegenstand wurde, verfügte er über kein Kriterium für die Vollständigkeit seiner Bedeutungsmomente. In der dialektischen Vermittlung unterschiedlicher Ideen gelang es ihm zwar immer wieder erneut, punktuell Widersprüche aufzudecken und Minimalbedingungen einzugrenzen, aber da es um die gedachte Widerspruchsfreiheit von Ideen ging, nicht von Bedeutungen, hatte nicht die transzendentale Bedeutungsanalyse das letzte Wort, sondern die wertorientierte Interessenbezogenheit auf Wahrheit. Platon ging es um die Wahrheit des Wirklichen zuerst, nicht um die Wirklichkeit der Wahrheit, deren Bedeutung ihm stets am Modell des Austiegs zu den Ideen (Höhlengleichnis) vergegeben war.

Nachdem Aristoteles Platons Ideen zu Substanzen umgedacht hatte, wurde die Was-Frage in der ihm folgenen Tradition, die im späten Mittelalter übermächtig wurde, zur Frage nach den Konstituentien der Substanzen. Im Anschluß an Porphyrius unterschied man bald klassisch Identität, Genus, Proprium , Attribut und Akzidenz. Eine Substanz mußte also als Identisches zu einer Art (genus) gehören, eine Eigenheit (proprium) besitzen und in dieser prädikative Eigenschaften (Attribute) und situationsbedingte Zustände (Akzidenzen). Mit diesen Bedingungen wurde inexplizit auf Bedingungen der Möglichkeit von etwas Wirklichem reagiert. Weil aber nicht die Wirklichkeit als etwas Wirkliches (Substanzen) analysiert wurde, sondern umgekehrt etwas Wirkliches (Substanzen) als die Wirklichkeit, mußte dieses Wirklichkeitsverständnis bald mit den siegreichen modernen Wissenschaften in Konflikt kommen: Überall zeigte es sich, daß dieses Substanzdenken in Konfrontation mit dem empirischen Experiment seiner Voraussagefähigkeit verlustig gehen mußte, weil die beherrschbare Realität sich nicht nach Substanzen richteten. Descartes, Spinoza und Leibniz versuchten auf diese Situation zu reagieren und das Substanzdenken zu retten: Vergeblich.

Als Kant nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung fragte, erschien ihm die Was-Frage in neuem Licht: Nicht mehr eine Substanz galt es jetzt noch zu explizieren, von der man gar nicht wissen konnte, ob und als was es sie gab. Für Kant wurden nun Kategorien als Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis die Letztgegebenheiten, denen sich alles Wirkliche für uns zu fügen hatte. Kant kehrte damit wider zu Platon zurück. Aber dessen Ideen erschienen nun als Grenzen der Erkenntnis, denen sich alles inhaltlich Erkennbare zu fügen hat, um als etwas bestimmt Unterschiedenes begriffen werden zu können. Auf die ganze Wirklichkeit bezogen akzeptierte Kant aber Platons Ideen als "transzendnetale Ideen", die über das angeborne Erkenntnisvermögen hinaus Grenzen des Ganzen genannt werden konnten. Wenn Kant eine Definition begriff als etwas in seinen Grenzen darzustellen, dann stellte er empirische Gegebenheit in den Grenzen der Kategorien dar, das Ganze der Wirklichkeit aber in den Grenzen der Ideen.Bedeutungsanalyse war das noch nicht, nach Platons Idee und des Aristoteles Substanz inzwischen längst der christliche Schöpfungsbegriff den Fragehorizont kennzeichnete: Es galt spätestens seit Newton, die allgemeinsten Prinzipien zu finden, nach denen Gott die Welt geschaffen hat. Kants Bedeutungsanalyse war eine Schöpfungsbeschreibung.

Nach Kant verblasste der chritliche Schöpfungsgedanke immer mehr und die empirischen Wissenschaften schritten von Triumpf zu Triumpf. Von dort her wurde mehr und mehr den Fachdisziplinen für ihre jeweiligen Zuständigkeiten das Beschreibungsrecht für Wirkliches überlassen, so daß das Wirklichkeitsbild sich langsam in ein geläufiges Feld von Wirklichkeitsgebieten verflüchtigte, deren Gemeinsamkeit darin bestand, sicheres und technisch verwertbares Wissen bereitzustellen. Im Verlauf dieser Entwicklung mußte die anfängliche Bestimmungshoheit der Philosophie für das Wirkliche unvermeidlich an Überzeugungskraft einbüßen. Nachdem vom Deutschen Idealismus noch einmal der Versuch unternommen worden war, die Substanzidee auf der vergeistigten Eebene eines Reflexionsmodells zu retten, dies aber vor der wissenschaftlichen Realität zum Scheitern verurteilt war, gab es auch von der Philosophie her kaum mehr Widerstände gegen eine ausschließlich empirische Bestimmung von Wirklichkeit, deren Führung die Einzelwissenschaften übernahmen. Der Philosophie fiel nun nur noch die Aufgabe zu, dabei für logische un methodische Klarheit zu sorgen, was im neunzehnten Jahrhundert noch gern mit der Etikette "Erkenntnistheorie" versehen wurde, mit dem Auslaufen des Neukantianismus nach der Jahrhundertwende aber langsam in eine "Logik der Forschung" (Dewey, Popper) übergeführt wurde. Philosophie war jetzt nur noch für die formalen Aspekte der Forschung zuständig, die Inhalte besorgten die Einzelwissenschaften in je eigener Regie. Als offene Frage blieb allerdings die Integration der Wissensgebiete und die Einheit des Ganzen, die von keiner Einzelwissenschaft mit längerem Erfolg für sich allein begründet in Anspruch genommen werden konnte.

Und so blieb die Wirklichkeitsfrage in der Metareflexion doch offen. Auf der einen Seite konkurrierten unterschiedliche Einzelwissenschaften um das Primat für das Ganze, der Reihe nach beanspruchten das die geisteswissenschaftliche Hermeneutik, die Physik, die Biologie, die Psychologie, Soziologie, Sprachanalyse,Kommunikationstheorie, Informatik, Systemtheorie usw. Auf der anderen Seite trauten sich auch Philosophen nach dem ersten Weltkrieg wieder zu, gegen den Verwissenschaftlichungstrend dessen eigene, grundsätzlichen Bedingungen der Möglichkeit als Metaphysik (A.N. Whitehead), Ontologie (Nicolai Hartmann). Fundamentalontologie (Martin Heidegger), Periechontologie (Karl Jaspers), Universalhermeneutik (Hang Georg Gadamer) zu hinterfragen. Die dabei unterstellten Letztzugänge zur Wirklichkeit erwiesen sich alle als bedingt: Whiteheads "ultimative Kaategorien" standen neben der Natur, Hartmanns Seinschichten wurden der Wirklichkeitsgegenwart nicht gerecht, die Daseinsanalyse des frühen Heidegger blieb subjektiv, der Rückstieg in die Seinsgeschichte des späten Heidegger verlor sich im Irrationalen. Karl Jasper' Wahrheitsräume des Umgreifenden entbehrten der schlüssigen logischen Vermittlung und Gadamers Rehabilitation der Hermeneutik war zu geisteswissenschaftlich orientiert, als daß es ihr hätte gelingen können, das Verständnis des Wirklichen überzeugend ausschließlich als Textverständnis plausibel zu machen. So kann verständlich werden, daß auch diese Versuche von der Postmoderne ad acta gelegt wurden und wir uns mithin gegenwärtig in einer Situation befinden, in der kein Konsens über Wirkliches besteht. Dieser Dissens befördert Orientierungslosigkeit.

---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

 

 


home | Begriffssystem | Kommentare | e-mail | WIRKLICH-FORUM
Letzte Änderung dieser Seite: 11.06.2003