Seinspyramide

Ausdifferenzierte Seinsbegriffe lassen sich über die jeweiligen synthetischen Seinsbedeutungen untereinander ihrerseits zu einem universalen Seinssystem ausdifferenzieren und zusammenschließen. Das Ganze ist eine Begriffslandkarte von Wirklichkeit auf unterschiedlichen Bedeutungsebenen.

Was verbindet ausdifferenzierte Seinsbegriffsbilder untereinander?

Bedeutungsebenen. Wenn ein Seinsbegriff bedeutungsmäßig bestimmt wird, entsteht über seine Seinsbedeutung eine neue Bedeutungsebene, an die sich andere Begriffe anschließen können.

Kann das an einem Beispiel erläutert werden?

Nehmen wir das Begriffsbild von Wirklichkeit. Die vier seinsbegrifflichen Wirklichkeitsbedeutungen (Welt, Ereignis, Intersubjektivität, Subjekt) können im Begriffsbild näher bestimmt werden und bilden dann eine neue Bedeutungsebene, wenn sie in ihrem jeweiligen Seinsbegriff (Realität, Notwendigkeit, Verständigung, Existenz) zusammengefaßt werden. Über die Wirklichkeitsbedeutungen von Sein überhaupt werden diese besonderen Wirklichkeitsbedeutungen auf ein einheitliches Ganzes bezogen zusammengehalten. Und so kann das prinzipiell fortlaufend weitergehen.

Was heißt, es kann so prinzipiell weitergehen?

"Realität" z.B. kann weitergehend als Synthese von Materie, Geschichte, Theorie und Erfahrung auf einer weitergehenden Bedeutungsebene als Immanenz zusammengefaßt werden und in dieser Bedeutung analog noch weiterbestimmt werden. Von der Prämisse ist "Realität" mit Wirklichkeit über Welt und Sein vermittelt, nach unten hin kann sie die Quelle von vielen neuen Seinsbedeutungen von "Realität" sein. Die Verbindungsschinen sind die Seinssynthesen.

Wie wäre aber ein nichtsynthetischer Seinsbegriff, etwa Erfahrung, auf dieser Schiene mit Wirklichkeit vermittelt?

Erfahrung ist zunächst eine Wirklichkeitsbedeutung von Welt und von daher mit Wirklichkeit vermittelt. Wird Erfahrung bedeutungsmäßig näher bestimmt, dann bezieht sich ihre synthetische Seinsbedeutung auf die synthetische Seinsbedeutung desdirekten Oberbegriffs, in diesem Fall Welt. Über Realität ist dann Erfahrung als Erkenntnis ebenfalls mit Sein und damit mit Wirklichkeit über eine Seinsschine verbunden.

Aber der Bedeutungsbezug auf Wirklichkeit über den Oberbegriff "Welt" ist doch keine Seinssynthese!

Das ist korrekt bemerkt. Erfahrung als solche gehört konstitutiv zum Begriffsbild "Welt", insofern handelt es sich noch um keine Seinsschiene, sondern um eine analytisch notwendige Platzierung im Begriffsbild. Seinsschienen vermitteln nicht Einzelbegriffe, sondern Begriffsbilder.

Und wie vermittelt sich das Begriffsbild "Erfahrung"?

Eben über den synthetischen Seinsbegriff "Realität" als seine eigene Bedeutungssynthese "Erkenntnis". Die Schiene läuft so: Sein ist die Synthese der Wirklichkeitsbedeutungen, Realität die Synthese der Seinsbedceutung von Welt und Erkenntnis die Synthese der Realitätsbedeutung von Erfahrung usw.

Die Synthesen meinen also auf unterschiedlichen Ebenen immer dasselbe: Sein?

Eben, aber mit jeweils präzisierter Bedeutung, die sich in der genauen Namensfindung ausdrücken muß. Auf die genaue Namensfindung kommt es darauf an, sie ist das Schwere.

Woher weiß ich, ob die Namensfindung gelungen ist?

Im Prinzip nie ganz endgültig. Oft entdeckt man erst bei weiteren Bedeutungsausdifferenzierungen, daß beim Namen des Ausgangsbegriffes irgendetwas nicht stimmen kann.

Aber an Hand welcher Kriterien kann das gelingen?

Namen dürfen sich nicht anderwärts wiederholen, müssen vielmehr einmalig sein. Und die Zuordnungsdefinition muß sem,antisch überzeugen. Erkenntnis hat eben nicht nur in dieser oder jener Beziehung realitätsbezogene Erfahrung zu sein, sondern in allen.

Das ist dann aber beinahe ein Ding der Unmöglichkeit, jemals endgültige bedeutungsmäßige Sicherheiten zu bekommen!

Endgültige gewiß nicht, selbst die Hinterfragbarkeit von Wirklichkeit kann legitim bezweifelt werden. Die Widerlegung muß aber überzeugen, und dafür spricht wenig Wahrscheinlichkeit. Aber es ist klar, daß man es bei der Begriffsbildlandkarte grundsätzlich nicht mit Gewissheiten, sondern nur mit Wahrscheinlichkeiten zu tun hat, mit mehr oder weniger großer.

Was wäre größere, was geringere Wahrscheinlichkeit?

Je öfters eine bestimmte Namengebung im Gedankenexperiment Kritik ausgehalten und Widerlegungsversuche erfolgreich überstanden hat, umso mehr wächst die Wahrscheinlichkeit ihfrer Korrektheit. Es versteht sich von selbst, daß die Namen der allgemeineren Bedeutungsebenen so öfter getestet wurden als z.B. jene, für die vielleicht lediglich ein Begriff ausdifferenziert wurde, nicht aber ein Begriffsbild, das den Begriff kommentiert.

Gibt es für diese Wahrscheinlichkeiten Erfahrungsregeln?

In der Regel hat man mit der Namensfindung relative Sicherheit erst dann, wenn nicht nur das Begriffsbild ganz ausdifferenziert wurde, sondern auch noch eine Bedeutungsebene zusätzlich.

Was bedeutet das für relative Sicherheit der Ebenenfolge?

Wenn wir von der Wahl des Wortes "Wirklichkeit" auf der ersten Ebene absehen, dann wäre die zweite Ebene, die Ebene ihrer Wirklichkeitsbedeutungen, erst dann relativ sicher, wenn auf der dritten und vierten Ebene keine Widersprüche mehr auftauchen. Um sich der dritten Ebene, der 25 Komponenten im Begriffsbild einigermaßen sicher zu sein, Bedarf es der Ausdifferenzierung wenigstens der fünften usw.

Je weiter aber die Bedeutungsebenen reichen, umso namensreicher wird das Vergleichsspektrum!

Und umso schwerer wird deshalb die richtige Namenfindung. Galt es noch bei den fünf Wirklichkeitsbedeutungen lediglich den Anspruch auf unbedingte Transzendentalität zu prüfen, so geht es auf den weiterführenden Eebenen immer mehr auch darum, die richtigen Differenzen gegenüber möglichen Konkurrenzbedeutungen zu finden. Auf der dritten Ebene haben wir es schon mit 25 Begriffen zu tun, auf der vierten mit 125, auf der fünften mit 625 usw.

Übersteigt aber die Vielzahl der Parallelbedeutungen im gesteigerten Maß die Analysefähigkeit?

Wollte man die Begriffslandkarte so vergrößern, daß jeweils alle Parallelbegriffe der Bedeutungsebenen vollständig ausdifferenziert sind, dann wäre das bereits mindestens ab der fünften Bedeutungsebenproblematisch, weil viel zu kompliziert. Aber man kann auch projektartig einzelne Bedeutungsschneisen über mehrere Bedeutungsebenen schlagen, so wie dies oben z.B. bei der Frage nach dem Sinn von Sein geschehen ist. Solche Bedeutungsschneisen sind natürlich hochgradig vorläufig.

Die Begriffsbildlandkarte ist also nicht nur eine Karte, sondern auch ihre Erstellung?

Das kann man so sagen. Denkbar wäre, daß später einmal die Karte so gut überprüft ausdifferenziert vorliegt, daß die Orientierung katenmäßig relativ unproblematisch möglich ist. Vorläufig aber bedeutet Kartenlesen immer auch noch Mitmachen bei der Erstellung und Überprüfung der Karte.

Ein philosophisches Projekt also für viele?

Aber nicht nur für Philosophen, vor allem auch Fachwissenschaftler wären in den Bereichen gefragt, die ihre eigenen Disziplinen betreffen. Geht es doch dabei auch um das Grundlagenwissen der je eigenen Zunft.

Und wozu dient diese Begriffsbildlandkarte?

Zur Orientierung im Grundsätzlich in allen Wirklichkeitsbereichen, vor allem auch der Philosophie.

Aber um welche Orientierung geht es da genauer?

Um die Orientierung von Vernunft und Urteilskraft. Es geht um das Wissen dessen, was man grundsätzlich wissen kann und was nicht, und damit um die grundsätzliche Basis gültiger Argumentation. An Argumenten kommen wir nicht vorbei, wenn wir uns orientieren wollen.

Aber in welcher Weise können Argumente von einer Seinsbildlandkarte genau profitieren?

Es ist wie mit einer Straßenlandkarte auch. Die Karte ist keine Darstellung der Gegend (Wirklichkeit), sondern nur eine Orientierungsskizze (Begriffsbildlandkarte). Wenn man wissen will, wie eine Stadt aussieht, muß man hinfahren (konkret Hanndeln und Denken). Aber ohne Karte kann man die Richtung verlieren, man kann Orientierungspunkte übersehen und überhaupt den augenblicklichen eigenen Standort nicht bestimme, denn dazu braucht man Orientierungsmarken. Die Begriffsbildlandkarte liefert diese im Gtundsätzlichen, indem sie dem Denken Abstand zu Vorurteilen verschafft und dem Handeln eine Informationsquelle letzter Rahmenbedingungen.

Aber Vernunft und Urteilskraft können doch nichts direkt aus der Landkarte für sich ableiten!

Das kommt darauf an. In Grundsätzlich Diskursen wo es um Weltbilder, Religion, Ethik und unbedingte Wahrheit geht, helfen die Seinsbilder direkt, schnell und ohne Umwege zur Sache zu kommen und. In der Alltagskommunikation schaffen sie grundsätzlichen Abstand zum Allgemeinen, so daß besser im Besonderen das Wesentliche gesucht werden kann..

Wie sollte die Seinslandkarte behilflich sein, im Besonderen besser das Wesentliche zu finden?

Der Raster der Informationsaufnahme und -verarbeitung ist zum Grundsätzlichen hin selektiver als jeder andere, und deshalb ist von dieser Position auch ein Unterscheidungsvermögen zwischen dem, was Sein und was Schein ist, konkurrenzlos im Vorteil, wenn es nur genützt wird. Keine Seinslandkarte kann natürlich die praktische Eingenverantwortung abnehmen, aber daß sie genau das auch theoretisch lehren kann,zeugt nicht gegen sie.

Und was sind die Schwächen der anderen Orientierungsvorlagen im Vergleich?

Sie sind eigentlich alle aus ganz bestimmten Sonderperspektiven und Sondererwartungen entstanden und an Spezialinteressen ausgerichtet, so wie es Landkarten für Fahrradfahrer, Gourmets, Konzertreisende usw. gibt. Die Seinsbildlandkarte ist interessenfrei und für alle gleicherweise da. Auf ihr sind alle Wege verzeichnet, es kommt nur auf den Maßstab an.

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HISTORISCHES.

Es ist merkwürdig, daß das von Anfang an von den Philosophen gesuchte eine Ganze es bis heute niemals zu einer anerkannten begrifflichen Darstellung gebracht hat. Von Heraklit wissen wir nichts genaues, Parmenides konnte die Realitäten nicht begrifflich adäquat repräsentieren. Platon, der in bewundernswerter Weise seine Dialektik in Begriffsbildern konstruierte und in aktuelle Fragestellungen einbrachte, hat niemals versucht, seine unterschiiedlichen dialektischen Untersuchungen in ein einheitliches Begriffssystem zu überführen. Dafür gibt es viele Gründe. Ein wichtiger bei großen Philosophen ist wohl die Wahrhaftigkeit, die es nicht zuläßt daß eine übermäßig komplexe Wirklichkeit vollständig in Begriffe zu fassen wäre. Hinzu kam die erkenntnistheoretische Perspektive, die es zwar erlaubte, allumfassende Ideen zu entdecken, eine Totalvermittlung aber jener Ideen mit der banalen alltäglichen Wirklichkeit schien einfach unmöglich, Platon jedenfalls erklärte die Dialektik nicht zuständig für die begriffliche Erfassung von Kot und Unrat. Sachliche Gründe aber kamen noch hinzu. Es fehlte der Oberbegriff, mit dem alle einverstanden gewesen wären, Wirklichkeit wurde übersehen, Sein kontrovers interpretiert und Wahrheitskonzeptionen scheiterten an unterschiedlichen Auslegungen der Unbedingtheit. So hat auch Aristoteles gar nicht erst den Versuch gemacht, Platons Seinsdenken so auszugrenzen und in einen Fachbereich zu integrieren, wie er es mit anderen Versatzstücken seines >Lehrmeisters gemacht hat. Die "erste Philosophie", die Aristoteles sehr wohl im Auge hatte, hatte zur verschwiegenen Prämisse die Natur und versuchte deren teleologischen Eigenschaften durchaus durch Konstruktion von hierarchischen Zweckverbindungen gerecht zu werden. Begriffliches Denken konnte dabei hilfrei sein und wurde auch beachtet. Aber niemals wäre es Aroistoteles in den Sinn gekommen, begrifflich eine systematische Einheit außerhalb der Natur oder gar gegen sie zu behaupten, so sehr ihm auch an der Überwindung von Widersprüchlichkeit und der Herausarbeitung letzter Prinzipien lag. Aber eben: Diese letzten Prinzipien blieben heterogen, wenigstens für das Wirklichkeitsbild des Aristoteles, das es nicht erlaubte, Sein unabhängig von Natur zu denken.

Als man im Mittelalter sich daran machte, die Schöpfung begrifflich zu analysieren, störte der Antagonismus von theologischem und logisch/empirischen Denken jede Emanzipation von Seinsbegriffen. Trotz einem weitverbreiteten Ordodenken vor allem im rechtlichen Sinn konnten sich konsensfähige Ordnungen von Seinsbegriffen nicht herausbilden, weil einmal von der Unermeßbarkeit des Schöpfers her im Blick auf das Nichtwissen und das Postulat des Glaubens die Geltungsautorität jedes irdische Konstrukts anzweifelbar war, zum anderen aber auch, weil der Status von Begriffen als etwas Wirkliches niemals geklärt werden konnte. Niemals ist im Mittelalter intersubjektiv verständlich geklärt worden, was mit "gegeben", "real", "existierend", oder gar "wirklich" gemeint sein kann. Und wenn man sich auf die Wahrheit einigen wollte, dann kamen die Theologen mit der Glaubenswahrheit: "Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich" (Joh.14,6). Daß die Wahrheit sich auch im Begriff offenbaren kann, war solchem Denken nur schwerlich beizubringen. Und so flüchtete man sich im Mittelalter eben in andere Formen des Einheitsdenkens. Dante hat den mittelalterliche Kosmos weltbildlich auf den Punkt gebracht. Von Plotin konnte man das hierarchische Denken übernehmen, das vom Irdischen aufsteigt zum transzendenten Eine. Dionysios Areopagita hatte dazu die bildliche Untermalung einer auf steigenden Linie ausgehend von irdischen Sphären und endend bei den letzten himmlischen, vorgegeben. Begriffe hatten da nichtsmehr verloren! Wie sollte man auch die sündigen Menschen zusammen mit den Engeln und schließlich der göttlichen Allmacht in ein geschlossenes Begrifssystem adäqat repräsentieren können?

Nachdem Leibniz und Spinoza es noch einmal versucht hatte, in der Tradition des Aristoteles substanzielle Systeme vorzulegen, hat Kant erstmals in propädeutischer Absicht Reichweite und Voraussetzungen von Begriffen radikal thematisiert mit dem Resultat, daß begriffliche Einheiten nur noch als transzendetale Kategorien, oder in deren Anwendung eine Berechtigung zukam: Nicht anders als Platon hat Kant nie den Versuch gemacht, Kategorien von einem einheitlichen Prinzip her, es sei denn der Einbildungskraft des Verstandes, abzuleiten, Und nicht anders als Platon hat er in Details begriffliche Grunderkenntnis eingebracht, aber von Fall zu Fall: Niemand konnte in der Folge mit Bestimmtheit entscheiden, was die Kritische Philosophie als das festzustellen erlaubte, was "ist". Hier sah der Deutsche Idealismus seins Chance, mit Kant über ihn hinauszugehen. Fichte und Hegel gelang es in der Tat, was von der großen Enzyklopädie der Französischen Aufklärer längst exemplarisch aufgegeben worden war, eine konsistente Ordnung des Seins zu stiften, die in letzter Instanz in einem überdemsionierten Bewußtseinszustand ihre Basis hatte. Kant wurde bei seinem Schwachpunkt getroffen, der Dialektik. Denn diese hatte bei ihm nur eine kritische Funktion, daß es auch dialektische Begriffsynthes im positiven Sinn gibt, interessierte ihn nicht. Fichte und Hegel stellten demgeneüber die positiven Potentiale dialektischer Begrifssynthesen heraus und brachten es dabei zu geschlossenen Einheiten, der erste in seinem imaginären "Ich", der andere im "absoluten Weltgeist". Diese beiden fundamentalen Grundpositionen sind dogmatisch, aber sie haben doch das Verdienst, darauf Aufmerksam gemacht zu haben, daß Kants Kritiken als Erkenntnistheorie nur propädeutisch konzipiert waren, und daß es mit dessen später Metaphysik nicht so weit her war: Bei seiner Abfassung einer Metaphysik der Natur und Metaphysik der Sitten, führten zwar die transzendentalen Kategorien bzw. der Kategorische Imperativ das Szepter, aber die Darstellung des Ganzen als System mußte mißlingen, weil der spät Kant der Metaphysik auf der Höhe seiner Zeit eeinfach nicht in der Lage war, empirische bedingte Seinbegriffe von transzendentalen unbedingten vorausschauend zu trennen.

Eine begriffsbildiche Landkarte des Seins bewegt sich sehr wohl mit Kant auf transzendentalem Boden, und das rückt sie in jedem Fall näher zu Kant denn zu Fichte und Hegel. Aber sie berücksichtigt auch die dialektische Kraft des Denkens, begriffliche Synthesen zu bilden und diese systematisch vermitteln zu können. Als eine Synthese aus Kants transzendentaler Grundposition und Hegels dialektischer Begriffsvirtuosität könnte man sie vielleicht treffend charakterisieren, wenn da nicht noch das Bedeutungselement wäre und der Weg ihrer Analyse: Dieser Weg ist sowohl Kant wie Fichte und Hegel so fremd, daß es keinen Sinn hat, ihn mit Gewalt in etwas hineinlesen zu wollen, wo nichts derartiges zu finden ist. Platons Begriff der Wiederinnerung hätten gewiß beide Seiten noch akzeptiert, Kant für seine Kategorien und Fichte wie Hegel für ihr reflexives Bewußtsein, aber diese Wiedererinnerung war nicht kontrolliert von der Wirklichkeit: Während Kant seine aus ultimativen Urteilsformen abgeleiteten Kategorien der Wirklichkeit aufzwingen mußte, übernahmen unsere Idealisten von vorn herein keine Garantien für ihre angeblichen Alternativlosigkeiten: Nur wer schon an Fichtes Ich glaubte, konnte auch von seinen abgeleiteten Begriffen annehmen, sie seien streng analytisch und insofern vom Status einer Wiedererinnerung. Und nur, wer Hegels absoluten Geist als solchen akzeptierte, konnte auch mit allem Folgenden einverstanden sein, was dieser Geist produzierte.

Zu einer transzendentalen Dialektik auf begrifflicher Basis aus Kant plus Hegel ist es aber bis heute nicht gekommen, was sonderbar klingt angesichts des Umstandes, daß der Großteil der Schulphilosophie seit dem 19. Jahrundert sich positionell vowiegend zwischen Kant und Hegel hin und herbewegt. Ein wichtiger Grund dafür das zunehmende Schwinden des Vertrauens in die Leistungsfähigkeit von Begriffen spätestens nach dem endgültigen Scheitern des positivistischen Großbversuches zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, die Welt in deskriptive Begriffe zu fassen und damit den Naturwissenschaften eine sichere Basis sogenannter sinnvoller Sätze zu verschaffen. Von Betrand Russell bis zu Hilary Putnam und Richard Rorty kann beobachtet werden, wie in der Auseindersetzung mit hartnäckigen logischen Antinomien und immer wieder erneut sich einstellenden sprachlichen Ungeklärtheiten immer weniger vom Begriff die Rede ist, dafür umso mehr von logischen Sätzen (Aussagenlogik), gedanklichen Propositionen, metasprachlichen Bedeutungen, interpretationsfähigen Zeichen, theoretischen Ausrichtungen, kontextabhängigen Sprachspielen, diskursiven Spielregeln und paradigmatischer Metaphorik. Schon Ludwig Wittgesteins Tractatus Logico-Philosophicus glaubte mit seiner logischen Beschreibung der Welt ohne Begriffe, nur noch mit Wahrheitsbedingungen auskommen zu können. Bei Rudolf Carnap kann man beobachten, wie im Bestreben, den Wissenschaften ein intersubjektiv evidentes Fundament zu präsentieren, langsam der Begriff ersetzt wurde durch eine logische Syntax, logisch gereinigte Metasprachen, metasprachlich reflektierte Theorieerörterungen und zweckorientierte Entscheidungsstrategien.

Weil der archimedische Punkt für eine sinnvolle allesumfassende Begriffshierarchie nicht gefunden wurde und eine tragfähige Vermittlungsstruktur nirgendwo in Sicht kam, galt schon bald mit dem Siegeszug der Logistik die klassische Begriffslogik, wie sie noch von Freytag-Löringhoff bis nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vertreten wurde, als hoffnungslos obsolet. Jeder Versuch, die Möglichkeit einer universalen Begriffspyramide in welcher Absicht auch immer schon bloß ins Auge zu fassen, wurde als anachronistisch abgetan. Hatte es sich doch auch außerhalb der Logik gezeigt, wie hoffnungslos unproduktiv solche Versuche waren, so etwa Heinrich Rickerts "System der Philosophie", das sich auf eine begriffliche Werthierarchie zu stützen suchte, oder die Sozialphänomenologie von Alfred Schütz, welche die soziale Welt in phänomenologischen Begriffen zu rekonstriuieren suchte. Auch der französische sogenannte Strukturalismus brachte es zu keiner grundsätzlichen begrifflichen Ordnung von Strukturen aufgrund eindeutiger Prinzipien. Jaspers' spätes sogenanntes Grundwissen verzichtete schließlich aus prinzipiellen Gründen auf jeden Versuch, seine phänomenalen Letztbegriffe systematisch zu integrieren. Spiegelbegriffliche Reflektionen wurden von ihm zwar ernst genommen, aber nicht mehr als mögliche Seinsbestimmungen, sondern nur noch als existenzielles Transzendenieren im Medium von Chiffer,. mehr war ihm mißverstandene Spielerei. Weil logisches Seinsverständnis keinen Wirklichkeitsbezug mehr findet, scheint heute ein Orientierungswissen als Begriffsordnung außerhalb jeder Denkbarkeit. Und dabei hätte doch Max Webers Konzeption des Idealtypus Anstoß zu so viel weiterführenden Begriffsüberlegungen geben können!

Bleibt die Natur selbst, deren Einheit, wenn es sie gibt, unbestreitbar durchgängig am Leitfaden zunehmender Komplexität gesucht werden muß. Wie aber ist diese Komplexität zu ordnen, wie zu bewerten? Anfang und Ende sind im Dunklen, aber vielleicht ist eine überzeugende Begriffsbildlandkarte in der Lage, etwas mehr Licht zwischen den Dunkelheiten zu verbreiten!

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Letzte Änderung dieser Seite: 29.06.2003