Plädoyer für Pfingsten

von Peter Dörsam


Inhalt

Vorwort

I

Die Frage

Heiliger Geist

Gottes Sprache

Ein Vorschlag

Heilsgeschichte

Freiheit

Verantwortung

Wunder

Pfingstwunder

Pfingstfest

----------

II

Allgemeinbildung

Wahrheit

Grundkonsens

III

Aktuelle Situation

Walserdebatte

Kosovodebatte

IV

Schule

Schüler
 

Vorwort

Zunächst möchte ich mich ganz herzlich bei den Schülern bedanken, die mich zu dieser Rede eingeladen haben. Meinen Einfluß an dieser Schule, wenn es ihn gibt, verdanke ich seit einem Vierteljahrhundert ohnehin ihnen.

Zum Inhalt in aller Kürze: Ich möchte ein Plädoyer für Pfingsten halten und in diesem Zusammenhang noch etwas zur Allgemeinbildung, zum gegenwärtigen öffentlichen Bewußtsein, zur Schulsituation und direkt zu den Schülern sagen. Die Gedanken hierzu sind mir an Pfingsten gekommen, nachdem in einer neunten Klasse wieder einmal niemand sagen konnte, was dieses Fest bedeutet. Andererseits erinnerten mich unklare ekstatische Phänomene bei einigen Repräsentanten dieses Jahrganges an die Schilderung der Ausgießung des Heiligen Geistes, wie sie sich zu Beginn der Apostelgeschichte findet. Und dann war da diesmal noch Rudolf Augsteins ganz besonderer Pfingstgruß, sein SPIEGEL-Fanfarenstoß ,Was bleibt von Jesus Christus" .

Rudolf Augstein will mit seiner Titelgeschichte ,an der Schwelle des Jahrtausends" einem längst überfälligen Mythos die endgültige Grabrede halten, indem er wiederholt, was er bereits 1972 in seinem Buch ,Jesus Menschensohn" erstmals vorgetragen hat. Diesmal will er das vom Papst ausgerufene heilige Jahr 2000 vor seinem Millionenpublikum als ein scheinheiliges entlarven, ein Jahrtausendessay also!

Dagegen wage ich hier eine kleine Verteidigung, nicht der Theologie, denn die muß sehen, wie sie mit Rudolf Augstein zurecht kommt, aber von Philosophie im Dialog mit der Religion. Denn Augstein betreibt Religionskritik, ohne zu philosophieren. In seinen jüngsten Kosovo-Artikeln spürten wir sogar die Unlust, sich mit gegnerischen Argumenten überhaupt noch auseinandersetzen zu müssen. Pastor Timm, den ich unter den Anwesenden vermuten darf, und Religionskollegin Boeck möchte ich mit meinen Ausführungen im übrigen keine Konkurrenz machen, ihnen lieber einmal eine gemeinsame Diskussionsveranstaltung vorschlagen.

I

1. Die Frage

Verehrte Anwesende! Die überlebende Polin Stell Müller-Madej beschreibt in ihren Erinnerungen (,Das Mädchen von der Schindler-Liste", Augsburg 1994) eine ordentliche Strafexekution im Konzentrationslager Plaszow des Kommandanten Göth, bekannt durch ,Schindlers Liste" :

,Als letzter klettert ein Priester in Soutane vom Wagen, er steht mit tief gesenktem Kopf in der Reihe, der Wind zaust seine langen, grauen Haare. Die Schergen treiben mit ihren Bajonetten die Menschen zu den ausgehobenen Gruben. Ein blutig geschlagener Mann, dem offenbar jeder Schritt die größten Schmerzen bereitet, stöhnt. Da nimmt ihn der Priester, durch den plötzlich ein Ruck geht, um die Hüfte, dann bleibt er stehen, hebt die Augen zum Himmel, droht mit der Faust nach oben und ruft unter Schluchzen: ,Leute! Leute! Es existiert nichts! Es gibt keinen Gott!" Sie fallen über ihn her und zerren ihn zur Grube. Eine Serie von Schüssen ist zu hören, dann fahren die Autos mit den lachenden Männern davon" (SPIEGEL, 14.3.94).

Wie stellen wir uns heute zu dieser äußersten Verzweiflung, die ich mir überhaupt nur denken kann? Sind wir nach einem weiteren halben Jahrhundert inzwischen weiter als der verzweifelte Priester? Hat sich uns Gott endlich als der gezeigt, der er in all seiner Herrlichkeit eigentlich ist oder sein soll und als der er vielleicht nur einige Zeit nicht präsent war? Was aber heißt hier Präsenz: Kann Gott gelegentlich Pause machen, oder sind wir es, die seine Gegenwart heute noch so verschlafen, wie es das Johannesevangelium für Jesu Zeitgenossen bezeugt? Haben wir am Ende die ganze Botschaft falsch verstanden? Sind wir gar einem Grundirrtum aufgesessen, wie Nietzsche diagnostiziert? Kurz: Was ist unsere gültige Antwort auf Auschwitz? Fragen über Fragen!

Hier gilt es, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Einem der vielen Leserbriefe zu Augsteins ,Christenlehre" entnehme ich folgende Passage: ,Wenn Sie schreiben", bemerkt da der Leser Eusterbrock (SPIEGEL, 7.6.99) ,seit den Tagen des Jesus und des Paulus ist die Welt nicht vorangekommen; die Menschen haben keine höhere Ethik oder Moral erlangt", machen Sie dann Gott beziehungsweise Jesus dafür verantwortlich? Oder die Menschen, denen die Eigenliebe näher ist als die Gottes- und Nächstenliebe?" Leser Eusterbrock stellt m.E. die richtige, weil für uns entscheidende Frage.

Der Umstand, daß es offenbar mit dem Reich Gottes auf Erden bis heute nichts geworden ist, kann ja zum einen zur grundsätzlichen Indifferenz bis hin zum Nihilismus und der verzweifelten Verlassenheit des Priesters in Plaszow führen, weil Gott, was Nietzsche in die Welt hinausgeschrien hat, offenbar tot ist. Er kann aber auch zur Selbstreflexion anregen, denn es könnte ja sein, daß wir bis heute gar nicht richtig verstanden haben, was wir mit Gott meinen, wenn wir z.B. Begriffe des Lebens auf ihn übertragen, Vielleicht hat die religiöse Christenheit tatsächlich etwas falsch gemacht, gar etwas mißverstanden. Ich verfolge da eine Spur.

2. Heiliger Geist

In Matthäus 12,31 findet sich der folgende merkwürdige Satz, der übrigens auch sinngemäß in den Pseudoevangelien des Thomas der Zwilling und des Bartholomäus auftaucht, natürlich auch beim Quellengefährten Lukas (12.10). Er lautet in der lutherischen Übersetzung: ,Darum sage ich Euch: Alle Sünde und Lästerung wird dem Menschen vergeben; aber die Lästerung wider den Geist wird den Menschen nicht vergeben; und wer etwas redet wider des Menschen Sohn, dem wird?s vergeben; aber wer etwas redet wider den heiligen Geist, dem wird?s nicht vergeben, weder in dieser noch in jener Welt."

Wer ist dieser ,Heilige Geist", in der griechischen Urschrift ,to pneuma, to hagion", in der lateinischen Übersetzung ,spiritus sanctus" (Joh. 14.26) ? Nach Johannes ist es der Geist der Wahrheit (Joh. 14,17; 14, 26; 16,13), um den der Sohn den Vater bittet, auf daß dieser in der Funktion eines Trösters (parakletos) bis zur Wiederkunft des Herrn, wie es wörtlich heißt, ,alles lehren wird und euch erinnern alles das, was ich euch gesagt habe" (Joh.14,26). Dem weiteren Text entnehmen wir, daß vor allem an Sünde, Gerechtigkeit, Gericht und Glauben gedacht ist, wofür der Heilige Geist die Augen öffnet. Mir genügt, daß es ausdrücklich heißt: ,Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, der wird Euch in alle Wahrheit leiten, denn er wird nicht aus sich selbst reden" (Joh,16.13).

Müssen wir dabei das Wort ,Wahrheit" heute so verstehen wie der Evangelist damals? Natürlich hat Johannes noch nicht über einen reflektierten Wahrheitsbegriff verfügt, wenn er den griechischen Terminus ,aletheia" = Unverborgenheit verwendet und interpretiert. Der subjektive Sinn von Wahrheit als Gegensatz zur Lüge ist aber heute noch derselbe wie damals. Und wenn der unbedingte Sinn von Wahrheit mit Offenbarung gleichgesetzt wird, wenn es heißt ,Was zukünftig ist, wird er euch verkünden", dann dürfen wir mitbedenken, daß der Evangelist den Wahrheitsanspruch von Prophetie im Alten Testament noch nicht objektiviert. Deswegen brauchen wir auch nicht zu unterstellen, daß er den unbedingten Sinn von Wahrheit bewußt einem bedingten Mythos opfern will. Wir wissen nicht ganz genau, was ihm wichtiger ist, Wahrheit oder Offenbarung! Aber es geht ihm um alle (pasa) Wahrheit.

Gehen wir auch vom gleichbleibenden Forderungscharakter von Wahrheit aus, wie immer gedeutet, dann ist unser geschichtlicher Horizont heute gewiß ein anderer. Überblickt man den Zeitverlauf, ist für jeden Unvoreingenommenen klar, daß mit dem geschichtlichen Dasein des Heiligen Geistes kein Staat zu machen ist. Entweder war er nur ein Phantom, oder er ist von Gott zum Narren gehalten worden, oder aber die Gemeinden haben immer wieder gegen ihn gesündigt. Sie könnten ihn aber auch hartnäckig mißverstanden und dabei Gottes eigentliche Intention verfehlt haben: Etwa, weil man zu sehr von der eigenen Sprache ausging, weil man in der Übersetzungsfrage zu unbesorgt war oder sich gar nicht erst bemüht hat, die Sprache zu erlernen, in der Gott sich grundsätzlich auszudrücken beliebt. Wer weiß denn darüber schon ganz genau Bescheid! So selbstverständlich unproblematisch, wie religiöse Fundamentalisten es gerne handhaben, ist das alles nicht.

3. Gottes Sprache

Daß man Gottes Sprache überhaupt falsch identifizieren kann, war bis zur Aufklärung noch kein Thema. Heute aber können nur ganz Naive grundsätzlich die Möglichkeit leugnen, daß wir den Code noch nicht kennen, in dem seine Botschaft verschlüsselt abgefaßt ist, Vielleicht steht uns da noch ein großer Lernprozeß bevor, vielleicht müssen wir die Buchstaben der Bibel noch genauer deuten oder uns auch um noch unmittelbarere Zuwendung bemühen, um eine, wie sie offenbar zuletzt den Propheten zugänglich war.

Es ist ja auch gar nicht von vornherein ausgemacht, daß alles Wahre schon gesagt ist. Und wenn, dann ist es noch nicht gewiß, daß widersprüchliche Wahrheiten sich im Namen unterschiedlicher Heilsgewißheiten für immer bekämpfen müssen. Vor allem ist keinesfalls sicher, daß Gottes Wort (logos) zuerst einmal bestimmt geglaubt werden muß, bevor es verstanden werden kann, oder ob nicht umgekehrt gilt, daß man zuerst zwischen wahrem und falschem Glauben unterscheiden muß, wenn man wahrhaft glauben will!

Vielleicht hat Platon mit seinem Höhlengleichnis ja mehr recht als Paulus, wenn er nicht von vornherein von einer ausgemachten, weil historisch geoffenbarten, sicheren Gewißheit ausgeht: Denn diese ist ihm ja lediglich sinnlich die geworfene Schattenwelt der Dinge, verbal das unbegriffene Meinen des ,Man sagt es halt so". Erst in einem redlichen Bemühen um Wahrheit enthüllt sich im Höhlengleichnis allmählich das, was ,in Wahrheit" wirklich ist, weil es wahr und die Sprache Gottes sein könnte.

Platon und Paulus scheinen sich in einem ganz entscheidenden Punkt zu widersprechen: Fordert Platon zuerst das Wissen, um dann an dessen Grenzen staunend zum Glauben zu kommen, setzt Paulus zuerst den Glauben, um dann das Wissen korrekt zu verstehen. Für den gesunden Menschenverstand haben wir es hier mit einem unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Religion und Philosophie zu tun, der durch einen lachenden Dritten, den Siegeszug der modernen Naturwissenschaften, inzwischen irrelevant geworden ist. Die Vermittlungsfrage zwischen Glauben und Wissen ist deswegen aber noch nicht erledigt, denn Religion bleibt so begründungspflichtig, wie Wissenschaft Grenzen hat.

4. Ein Vorschlag

Ich verfolge hier das Problem nicht philosophisch weiter, sondern bleibe auf der Ebene des Neuen Testamentes. Wenn wir der Verzweiflung des Priesters angesichts seines eigenen Schicksals und des friedlosen, ja blutrünstigen Schauspiels einer zweitausendjährigen Christenheit nicht einfach gedankenlos ignorieren wollen, wenn wir aber auch wie Hiob uns weigern, alle Übel Gott anzulasten und dennoch weiter an einen letzten Sinn glauben: Warum halten wir uns dann nicht mehr an den Heiligen Geist, der ja nach der Schrift lebendig anwesend sein soll, um zwischen Diesseits und Jenseits zu vermitteln? Warum reden wir stattdessen so viel von Buchstabenoffenbarungen, von Dogmen, Traditionen, Autoritäten und Utopien?

Denn über Gott verfügen wir ja nach der Bibel weder theoretisch noch praktisch. Zum Heiligen Geist aber kann jeder ein kommunikatives Verhältnis entwickeln, hoffend, daß Gott seinen Segen dazu gibt, daß er, obzwar unsichtbar und endgültig nicht wißbar, vielleicht doch selbst mitanwesend ist. Ich plädiere also für ein Umdenken: Pfingsten ist wichtiger als Weihnachten oder Ostern! Von Pfingsten her scheint mir eine Glaubensantwort auf Auschwitz möglich, weil der einzelne auch in seiner zukünftigen Freiheit und Verantwortung aktiv angesprochen wird, von Weihnachten und Ostern her bleibt nur das je schon vergangene passive Fürwahrhalten.

Pfingsten schließt kommunikativ niemanden aus, kann umgekehrt sogar als das Ereignis begriffen werden, das vernünftigen Grundkonsens universal stiftet, indem es Argumente am Maßstab von Wahrheit und Wirklichkeit ohne Ansehen der Person unbedingt respektiert. Mit Blick auf Pfingsten scheint es mir deshalb möglich, den Dialog zwischen den großen Weltreligionen, um den sich ein Hans Küng sein Leben lang bemühte, endlich zum Frieden führen zu können: Von Weihnachten und Ostern her bleiben Abgründe. Und im Geist von Pfingsten können auch Religion und Philosophie wieder so zusammenkommen, daß sie sich wechselseitig ergänzen, um damit gemeinsam auf den Boden zurückzufinden, dem die abendländische Kultur in der geschichtlichen Synthese griechischer Philosophie und biblischen Offenbarungsglaubens Ursprung und Kraft verdankt.

5. Heilsgeschichte

An Pfingsten können auch Heilsgeschichte und Geschichtsphilosophie sich so treffen, daß Eschatologie und Historie keinen Widerspruch mehr bilden müssen. Wir brauchen dazu nur die Deutungen, die Augustinus und Kant dem Heiligen Geist gegeben haben, zusammenzufassen.

Dreihundert Jahre nach Paulus hat der große Kirchenlehrer Augustinus für die Kirche und das ganze Mittelalter später verbindlich in seinem Gottesstaat (,De civitate dei") den Heiligen Geist als die zeitliche Herrschaft Gottes beschrieben, die sich als das Reich der heiligen Kirche gegen das Reich der Welt bzw des Satans, (damals noch auf das römische Imperium bezogen, später auf den säkularen Staat, die Gesellschaft), immer mehr behauptet, bis einst der Tag kommen wird, an dem das Reich der Welt bzw. des Satans überwunden, weil bis zur Unkenntlichkeit geschrumpft, und die Macht des Heiligen Geistes bzw. der Kirche allesbeherrschend ist. Welch historischer Irrtum, so scheint es heute.

Nachdem alles offenbar umgekehrt gekommen ist, das Reich der Kirche immer kleiner, das des Teufels, sprich Staat und Gesellschaft, immer mächtiger wurde, hat Kant dieser ersten abendländischen Geschichtskonzeption eine moderne Wendung gegeben: Das Reich des Heiligen Geistes deutet er um in das Reich der Vernunft, das sich durch Aufklärung immer mehr ausbreitet, das Reich der Welt wird jetzt zum Reich der Unvernunft, das entweder im nackten Naturzustand oder, weil noch unmoralisch, in bloßer Legalität verharrt. Augustins Gesamtkonzept wird von Kant also nicht aufgegeben, eher philosophisch auf die Füße gestellt: Die vernünftige Urteilskraft hat jetzt Anteil am Kommen des Reiches Gottes, der Heilige Geist ,ist" nicht mehr gnostische Wesenheit oder transzendente Substanz, sondern das lebendige Kommunikationsmedium zwischen dem fordernden Gott und dem verantwortlichen Subjekt.

Dabei wandelt sich für Kant der unbedingte Sinn von Wahrheit. Im Heiligen Geist des Glückes würdig werden, das wird jetzt zum Ausgangspunkt: Nicht mehr ein vermeintliches Wissen, nicht mehr die Bevormundung Gottes, wie und in welcher Sprache er sich im Medium des Heiligen Geistes auszudrücken hat, nicht mehr die Gnade Gottes, die als Vorsehung den Fortgang einer Geschichte so oder so bestimmen soll. Dies alles bleibt unerforschbar, handelt es sich doch jetzt vor den Augen Kants um eine Geschichte, die bei aller Großartigkeit im ganzen doch so zufällig, unbegreiflich, sinnwidrig und ungerecht wirkt, wenn wir die einzelnen Schicksale betrachten.

Kant kehrt damit wieder zur Grundposition Platons zurück: Zuerst das Wissen und dann Glaube als reflektiertes Resultat, nicht aber umgekehrt, zuerst Glaube, in welcher Form auch immer, und dann Wissen, was irgendwie mit dem Glauben vermittelt werden muß. Um hier nicht mißverstanden zu werden, betone ich ausdrücklich: Was die Kraft des Glaubens ist, lernen wir bei Paulus wie bei keinem anderen, was aber reines Wissen bedeutet, das lernen wir eher bei Platon! Die intersubjektive Evidenz moderner Wissenschaft dann - Paulus und Platon wären da gleicherweise überfordert - deuten uns ohne Widerspruch zum wahren Glauben Kant und Max Weber! Was wir schließlich unter Wahrheit zu verstehen haben, das lehrt uns nur die philosophische Selbstreflexion. Wenn diese vom Heiligen Geist getragen wird und wenn jener für sich selbst die lebendige Vermittlung von Zeitlichem und Überzeitlichem bewirkt, dann ist es nicht überheblich, wenn wir heute im Rückblick unser Wahrheitsverständnis zugrundelegen als das, welches Johannes auch hätte, wäre er unser Zeitgenosse und weiterhin der Auffassung, daß der Heilige Geist uns in ,alle" Wahrheit führt.

6. Freiheit

Des Glückes würdig zu werden ist heute sicher der vernünftigere Rat anstelle des blinden Vertrauens in die Schicksalhaftigkeit eines Augustin und Hegel: Allerspätestens seit Auschwitz klingt Schicksalshörigkeit verlogen, vor allem dann, wenn von Mitreflexion subjektiver Verantwortlichkeit gar keine Rede mehr ist. Der potentiell anwesende und auf sein Entdecktwerden wartende Heilige Geist prätendiert demgegenüber keine Allwissenheit, denn diese ist nur bei Gott selbst. Er fordert lediglich, sich so der Wahrheit zu stellen, daß man sie vor dem ewigen Richterstuhl bewußt verantworten kann.

Diese Interpretation ist mit dem Glaubensverständns aller Evangelien im weitesten Sinn vereinbar, Einmal erscheint überall der wahre Glaube gegenüber dem bloßen Zeichenglauben, z.B. der Pharisäer und Schriftgelehrten, als höherwertig. Am deutlichsten wird dies wieder bei Johannes, wenn sich Jesus beim Hauptmann von Kapernaum beklagt ,Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, glaubet ihr nicht" (Joh. 4,48), oder wenn der ,ungläubige" Thomas zu hören bekommt: ,Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!" (Joh.20,29). Dieser wahre Glaube entspricht aber keiner gültigen Einsicht in ein deterministisches Schicksal: Wenn auch Gott alles vorherbestimmt hat und Jesus von seinem Ratschlag Zeugnis ablegt, so heißt das nicht, daß die Menschen genau Bescheid wissen könnten. ,Darum wachet! Denn ihr wisset weder Zeit noch Stunde" (Matthäus 25,13). Alle Gleichnisse Jesu appellieren an Umkehr und Einkehr, was beides ohne Freiheit nicht zu haben ist. Freiheit aber gibt es wiederum nur dann, wenn nicht alles für uns im Rückblick notwendig, vieles dafür im Vorblick auch möglich ist..

Die Frage ist erlaubt: Was wäre der Menschheit in den letzten zwei Jahrtausenden erspart geblieben, wenn nicht irgendwelche Prinzipien und Glaubensbekenntnisse, sondern der lebendige Heilige Geist, d.h. eben die Liebe zur Wahrheit in möglicher Freiheit, bei den weltgeschichtlichen Weichenstellungen die Federführung gehabt hätte? Ein Heiliger Geist, dessen grundsätzliche normative Botschaft nach Paulus und den Evangelien ja nicht aus irgendwelchen bedingten Vorschriften und situationsabhängigen Gesetzesverallgemeinerungen besteht, sondern im permanenten Appell an den Glauben in der unbedingten Verantwortung vor Gott, für die es keine Ausreden mehr gibt.

7. Verantwortung

Die ,Freiheit eines Christenmenschen" (Luther) entspringt ja einem Neuen Bund (Paulus), durch den der einzelne aufhört, Sklave von Gesetzesbuchstaben zu sein, um nunmehr mit Hilfe des Heiligen Geistes als selbständiges Handlungssubjekt für seinen Glauben in Liebe Eigenverantwortung zu übernehmen. Und die ethische Botschaft des Neuen Testamentes ist nicht die Bergpredigt, die gräßlich mißverstanden wird, wenn man sie, so wie ein Franz Alt oder ein Eugen Drewermann, aus ihrem historischen Kontext löst und zur Universalmoral verallgemeinert.

Die ethische Botschaft des Neuen Testamentes ist vielmehr das von Jesus explizit als Zusammenfassung aller Gebote verkündete und von allen drei synoptischen Evangelien bezeugte oberste Gebot: "Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüte und von allen deinen Kräften." Das andere aber ist dies: ,Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." (Mark. 12.30; Luk. 10,27),

Dieses oberste Gebot Jesu entspricht der normativen Einsicht der Philosophie seit Platon, denn diese erschöpft sich ja nicht, wie leider akademisch noch vielfach vertreten, in widersprüchlichen normativen Grundsatzpositionen, die sich heterogenen objektiven oder subjektiven Wertsystemen verdanken. So wie vielmehr Jesus die Gesetze des Moses zusammenfaßt, finden auch im Kategorischen Imperativ Kants, den implizit schon der platonische Sokrates kannte (Kriton), alle denkbaren inhaltlichen philosophischen Wertausrichtungen ihre formale Einheit als der letzten überhaupt denkbaren Bedingung der Möglichkeit von Freiheit und Verantwortung.

Jesu Liebesgebot und Kants Kategorischer Imperativ meinen im unterschiedlichen Kontext wesentlich dasselbe, hier im Medium des wahrhaften Fühlens, dort im Medium des wahrhaften Denkens. Der Kategorische Imperativ ist in letzter Instanz auch die normative Grundlage des Heiligen Geistes, gleich wie der Heilige Geist in letzter Instanz als die tragende Kraft des Kategorischen Imperativs gelten kann. Zwischen Pflicht und Neigung schließt sich, Friedrich Schiller zum Trotz, dann doch die Kluft, weil es Heiligen Geist ohne Liebe nicht gibt, Pflichterfüllung aber ohne den Heiligen Geist abstrakt bleibt. Im erfüllten Bewußtsein der Verantwortung vor Gott kommen so Glauben und Wissen in einer lebendigen Geisteshaltung zusammen, was die gängige Begründungsalternative von Sinnlichkeit und Ratio überflüssig macht.

8. Wunder

Wie in der normativen Praxis, so können sich Philosophie und Religion auch in der empirischen Theorie im Heiligen Geist bzw. an Pfingsten treffen. Denn so, wie der Heilige Geist im Diesseits wirkt, so gründet er doch im Jenseits als das, was sich im Diesseits nicht mehr für uns erschöpft. Als das sich selbst bewußt werdende Dasein zeigt er uns gleichsam das Seiende in seiner bedingten und unbedingten Gegebenheit zugleich. In ihm finden Wissen und Glauben in ihrer notwendigen Zusammengehörigkeit in wechselseitig sich erhellender Wahrheit wieder zueinander im Blick auf das, was wahr und wirklich ist.

Das Wissen bezieht sich dann ,in Wahrheit" explizit auf das Bedingte, der Glaube ,in Wirklichkeit" auf das Unbedingte, beide zusammen, getragen vom Heiligen Geist, entsprechen sich wechselseitig und ergänzen sich ,in Wahrheit und in Wirklichkeit" dialektisch. Denn so, wie jede Religion unkritisch bleiben muß, wenn sie sich nicht argumentativ begrifflich hinterfragen läßt, so bleibt jede begriffliche Philosophie abstrakt, wenn sie nicht getragen wird von der anschaulichen Erfüllung konkreter Daseinserfahrung. Dasein aber, Offenbarung und Wunder liegen nahe beieinander, wenn wir Wirkliches als Sein bestimmbar werden lassen.

Gottes Schöpfung ist ja ein einziges, und zwar wahres Wunder. Denn wenn ein Wunder definitionsgemäß etwas meint, was man naturwissenschaftlich nicht erklären kann, dann bedeutet ein wahres Wunder etwas, was man naturwissenschaftlich nicht erklären kann und obendrein nicht einmal glauben muß. Das ist nicht paradox, denn bloße Wunder werden mannigfach behauptet, sind oft nur Zumutungen, Täuschungen oder resultieren aus Mißverständnissen. An viele muß man glauben, um sie für wahr halten zu können. Gottes Schöpfung aber ist ein wahres Wunder, insofern kein Mensch die Wirklichkeit erklären kann, und dennoch muß kein Mensch an die Wirklichkeit glauben, um ihre Gegebenheit im Dasein als wahr anzuerkennen. Im wahren Wunder treffen sich Glauben und Vernunft widerspruchslos.

Das klingt wie eine Provokation für das herkömmliche Glaubensverständnis. Aber könnte man nicht mit gleicher Berechtigung dem mythischen Wunderglauben die Provokation des gesunden Menschenverstandes vorhalten? Und könnte es nicht sein, daß im Begriff eines recht verstandenen Heiligen Geistes die wechselseitige Provokation ihr Ende findet, weil Endliches und Unendliches zwar nicht mehr verwechselt, aber doch auch in ihrer Wechselbeziehung zusammengehörig gedacht werden? Die Antinomie von faktisch Unumgänglichem und logisch Widerspruchslosem gründet ja dann in einem Unbedingten, das im Endlichen zugleich das Unendliche und im Unendlichen das Endliche repräsentiert (Cusanus!).

Am Ende will uns der Heilige Geist vielleicht in Gottes eigener Sprache die Augen für jene Wunder öffnen, die evident sind, weil sie das Jenseits im Diesseits und das Diesseits im Jenseits ohne Rückgriff auf übernatürlichen Zeichen zur Anschauung bringen! Vielleicht will er uns sogar über eben diese wahren Wunder vom Aberglauben befreien, um unsern Horizont im wahren Glauben für die eigentliche Sprache Gottes zu öffnen! Der wahre Glaube hätte dann Argumente wahrhaft nicht mehr zu fürchten, weil in ihm die Evidenz selbst evident wird, insofern Vordergrund und Hintergrund sich begründungstheoretisch nicht mehr gegeneinander ausspielen lassen! In Römer 1,19 ff scheint Paulus im Blick auf das Schöpfungsverständnis der Heiden etwas Entsprechendes zu unterstellen!

9. Pfingstwunder

Das christliche Fest des Heiligen Geistes ist Pfingsten. Pfingsten ist ein staatlicher Feiertag, in vielen Bundesländern gibt es Pfingstferien, so jetzt auch in Hamburg. Bei einer üblichen Umfrage in den neunten Klassen, (die meisten davon eingesegnete Konfirmanden), wußte diesmal wieder, wie gewohnt, keiner, was an Pfingsten eigentlich gefeiert wird. Ein Volk aber, das kein Verhältnis mehr zu seinen Feiertagen hat, steht in Gefahr, kulturlos zu werden. Die Neubewertung von Pfingsten könnte ein Anfang sein, dieser Gefahr bewußt zu begegnen. Das Pfingstwunder müßte so verständlich werden können, daß es als wahres Wunder angenommen wird und nicht länger als Aberglaube irritiert. Doch was ist eigentlich das ,Pfingstwunder" ?

Beim Pfingstwunder können wir es mit Jesus halten, so wie wir ihn aus den Evangelien kennen, oder mit Paulus, der direkt zu uns spricht. Mit dem überlieferten Jesus akzeptieren wir den Heiligen Geist als den Geist Gottes (Matthäus 3,16) und der Wahrheit, der jedem von uns im Diesseits das anwesende Jenseits vergegenwärtigt und mit dem göttlichen Willen vermittelt. Mit Paulus identifizieren wir ihn als eine mystische Offenbarung, die uns eine ganz bestimmte einmalige, dem Paulus nämlich geschenkte, befreiende Botschaft vermittelt, die für jeden anderen so wiederholbar wie festgelegt ist. Vom Jesus der Evangelien her ist der geoffenbarte Heilige Geist ein Wunder, an das man nicht glauben muß, weil jeder es selbst erfahren kann. Dem Paulus der Briefe ist er ein Wunder, an das man glauben muß, weil er sich nur im Glauben offenbart (Galater 3,2).

Irgendwie zwischen diesen beiden Extremen mag das Verständnis der Urgemeinde gelegen haben, ein genaues Wissen davon haben wir nicht. Nach dem Bericht der Apostelgeschichte über die gemeindebildende Ausgießung des Heiligen Geistes geht mit den Jüngern einmal eine innere Verwandlung vor, zum anderen fangen sie an, mit vielen Zungen zu reden und, so Petrus, Jesu Auferstehung zu bezeugen. Damit ist noch nicht gesagt, daß sich die Urgemeinde den Heiligen Geist, wenn sie ihn kannte, nur im Kontext der Botschaft von Jesu Auferstehung denken konnte.

Für Paulus jedenfalls, dessen Theologie älter ist als die des Lukas und diesem nicht ganz unbekannt, ist beides untrennbar eines: Einerseits interessiert er sich nicht mehr für den historischen Jesus, erfährt aber doch die eigene Umkehr über dessen Vision als Christus. Andererseits ist ihm die Umkehr als Wiedergeburt im Geiste alles, und doch knüpft er diese an Jesu Auferstehung (1.Korinther 15,14) und die Voraussetzungen des Alten Testamentes. ,So gibt es denn keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind. Denn das Gesetz des Geistes, der da lebendig macht in Christus Jesus, hat mich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes", heißt es in Römer 8,1 und 2.

Wenn wir es mit Paulus halten, dann ist das Pfingstwunder gegenüber Lukas zwar kein Mysterium, das übernatürliche Kräfte vermittelt, oder gar ein himmlisches Ereignis, wie es alle Evangelien bei Jesu Taufe beobachten, sondern ein Zusichselbstkommen im Geiste Jesu Christi, was Erlösung von den Sünden verheißt. Diese Selbstfindung ist gleicherweise eine Erleuchtung für die Offenbarung Christi (1.Korinther 12,3), asketische Abkehr vom Fleisch hin zum Geist, eine ethische Umkehr vom Gesetzes- zum Christusglauben, ein Gewißwerden der Auferstehung im Geist (1.Korinther 15,44, Römer 8,11) und eine symbolisch-mystische Vereinigung mit dem Herrn Jesus Christus durch Leidensnachfolge (2.Korinther 4,10ff). Die Frage dabei bleibt aber, ob jedem anderen auch dieselbe Theologie zuzumuten ist, wenn ihn der Heilige Geist unmittelbar ergreift, und ob die Mitteilungen des Heiligen Geistes heute noch ausschließlich an die geschichtlichen Inhalte gebunden sind, die einmal Paulus prägten.

Orientieren wir uns an dem überlieferten Jesus, dann können wir es im Pfingstwunder getrost dem Heiligen Geist und seiner Vermittlerrolle überlassen, wie er den Auferstandenen und Gegenwärtigen jedem einzelnen wahrhaftig nahebringt. Verbindlich ist die Wahrheit, aber niemandem kann vorgeschrieben werden, daß seine eigene Wahrheitsintuition inhaltlich dieselbe zu sein hat, die einmal Paulus vergönnt gewesen ist. Denn Paulus war nach der Schrift weder Gott noch Prophet noch Urapostel, sondern ein Mensch mit der Autobiographie einer Bekehrung und Selbstfindung. Als solcher stiftete er eine Sekte innerhalb der Urgemeinde, die nach deren Untergang im jüdisch-römischen Krieg zur Christenheit mutierte. Paulus ist insofern Religionsstifter, aber mit geliehener Autorität und hypothetischer Botschaft.

Jesus wie Paulus fordern gleicherweise Umkehr und Einkehr im Geist der Wahrheit. Die absolute Wahrheit aber ist nach Jesus bei Gott allein, nach Paulus einmalig geoffenbarte Botschaft, die jeder in einem identischen Sinn zu akzeptieren hat oder verfehlt. Mit Paulus beginnen zweitausend Jahre dogmatischer Religion und doppelter Wahrheit, der Intoleranz und der Glaubenskriege. Erst als Michail Gorbatschow für seine KPDSU den Verzicht auf die absolute Wahrheit verkündete, ist diese tragische Epoche - hoffentlich - zu ihrem Ende gekommen. (Daß der Papst hier immer noch nicht mit an Bord ist, hat glücklicherweise keine außerkirchlichen Konsequenzen mehr.)

Wir Heutigen können wahrhaftig nur mit Jesus die Wahrheit suchen und uns bemühen, wahrhaftig zu sein, nicht mehr missionierend die absolute Wahrheit verkünden und Andersdenkende ausgrenzen, so wie Paulus es tat. Wir können uns außerdem darüber verständigen, was wir mit ,Wahrheit" meinen, wenn wir kommunizieren, so daß wir uns wechselseitig vertrauen und gegenseitig lieben können. Pfingsten, nicht Weihnachten wäre dann das eigentliche Friedensfest. Als Pfingstwunder im Sinne Jesu feiern wir dann die historische Erfahrung, daß Umkehr der einzelnen und Frieden untereinander im Geist der Wahrheit, in Liebe, Glaube und Hoffnung tatsächlich möglich sind. Diese Erfahrung können wir machen, ohne zuvor schon daran glauben zu müssen.

10. Pfingstfest

Wenn die Gedenkinhalte von Weihnachten und Ostern vorwiegend dem Erinnern innerchristlicher vergangener Ereignisse dienen, die von so vielen nicht mehr geglaubt, von Andersgläubigen eh bestritten werden, wäre Pfingsten als das Fest des Heiligen Geistes das Fest aller Menschen vor Gott, weil im Heiligen Geist keiner willkürlich ausgeschlossen werden kann, der von Gott angenommen wird. Und welcher Mensch weiß schon ganz genau, wen Gott annimmt und wen nicht? Der Jesus der Evangelien drückte sich in dieser Hinsicht wiederholt ganz eindeutig aus. Nichts war ihm verhaßter als moralische Heuchelei: So wie für Platon der ,Sophist" der direkte Gegenspieler der Philosophie ist, so sind in den Evangelien die ,Pharisäer und Schriftgelehrten" die eigentlich gemeinten Hauptwidersacher der Lehre Jesu!

In der endgültigen Unsicherheit der Auserwähltheit feiern wir besser mit Jesu denn in der Gefolgschaft des eifernden Paulus den Frieden unter den Menschen und Völkern. Im Geiste Jesu kann die Tradition der Bibel und jene der Griechen zu einem großen Dialog finden: Paulus und Platon gehören ebenso dazu wie Augustin und Kant. Im Geist des Paulus dagegen bliebe nur das Entweder-Oder. Frieden mit Jesus ist kein statischer Zustand, sondern erhält sich in einer Grundspannung zur Wahrheit, mit Paulus ist er eine eschatologische Unruhe, die getragen ist von einem gläubigen Auserwähltheitsbewußtsein. Wie aber kann ich im Glauben der Gnade gewiß sein ohne die Gnade des wahren Glaubens? Und wie will ich Gewißheit finden über die Wahrheit meines Glaubens, ohne die Wahrheit zu wissen über Gewißheit? Die Position des Paulus bleibt zirkelhaft, weil sie auf einer geglaubten Wahrheit fußt, Jesu Geist läßt in den Zirkel eintreten, weil es ihm nicht um eine Position, sondern um die Wahrheit des Glaubens geht.

Feiern wir mit Jesus Pfingsten, feiern wir all das, was auch Paulus für wahr hält, aber ohne dessen Bevormundung: Die erfüllte Umkehr der einzelnen in Frieden untereinander; die Verwunderung und Freude darüber, daß beides möglich ist; den guten Willen, weil er das Böse als die Lüge im egoistischen Setzen auf Gewalt im Geist der Wahrheit besiegen kann; die Wachsamkeit, insofern das Böse immer nur faktisch, niemals als Grenzsituation endgültig besiegbar ist (viele Gleichnisse Jesu erinnern daran!). Wir feiern ein Fest des unbedingten Vertrauens, insofern wir begründet auf einen Sinn im ganzen hoffen, wir feiern schließlich den Heiligen Geist selbst, der uns frei, aber auch verantwortlich, selbstkritisch und bescheiden vor Gott macht. Wir folgen also ihm, der lehrte zu beten ,dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel" (Matthäus 18,10), nicht jenem, der jeden verfluchte, der eine andere Lehre verkündete als die seine (vgl. Galater 1,8). Ein so verstandenes Pfingsten wäre geradezu auch das ,Fest der Allgemeinbildung"!

II

11. Allgemeinbildung

Wenn Frieden als Herrschaft des Arguments definiert werden kann, dann entspricht dem Geist von Pfingsten eine Allgemeinbildung, die Frieden stiftet, weil sie das argumentative Grundwissen selbst ist. Im Blick auf ein so verstandenes Pfingsten läßt sich ein gültiger Sinn von Allgemeinbildung zurückgewinnen. Denn was hätte mehr mit dem zu tun, was friedenstiftend jeden angeht: Der Glaube daran, daß Jesus auf dem Wasser gegangen ist und Kranke geheilt hat, den ein Rudolf Augstein so sehr attackiert, oder das Wissen dessen, was der Heilige Geist als ,Wahrheit" offenbart und was wir argumentativ klären können? Was er als Wahrheit fordert, ist der Glaube. Das Wissen, in dem dieser Glaube wurzelt, wäre dann die Allgemeinbildung. Umgekehrt, wenn die Philosophie Allgemeinbildung fordert, dann geht es ihr um ein Wissen, das als Grundwissen zu unterscheiden erlaubt, was wir argumentativ wissen können und was nicht und was wir deshalb auch argumentativ begründet glauben dürfen.

Wir haben es hier mit der ältesten und weitesten philosophischen Definition von Allgemeinbildung überhaupt zu tun. Denn etwas Umfassenderes, als argumentativ zu erkennen, was wir überhaupt wissen bzw. nicht wissen können, ist nach Sokrates niemals mehr als Allgemeinbildung ausgegeben worden. Und auch den wahren Glauben schließt dieser Begriff mit ein, denn je mehr einer weiß, was er weiß und was er nicht weiß, umso genauer kann er ja auch zwischen Glauben und Aberglauben unterscheiden. Kein kulturspezifischer Allgemeinbildungsbegriff hat diese Weite! Jede nur kulturspezifische Allgemeinbildung hängt vielmehr im Äußersten irgendwo am Tropf eines Aberglaubens, der Argumente irrational erschleicht.

So wie sich der wahre Glaube auf das bezieht, was wir grundsätzlich nicht wissen können, verwechselt der Aberglaube Wissen und Nichtwissen, indem er Wißbares als zu Glaubendes, Unwißbares als zu Wissendes ausgibt. Der Aberglaube muß Argumente fürchten, der wahre Glaube ist mit den Argumenten im Bunde. Denken wir den Heiligen Geist als Medium von Allgemeinbildung, dann schließen sich rationale Vernunft und irrationaler Glauben in einer Grundspannung zusammen, in deren Aufrechterhaltung sich Urteilskraft bildet und Weisheit vertieft. Wo dabei das Wissen der Vernunft aufhört, kommt der legitime Glaube zu seinem Recht, wo der Glaube sich praktisch bewährt, liefert die Vernunft die Legitimation. Kritische Aufklärung als Bildung von Urteilskraft und Stiftung von Weisheit impliziert dann eben auch, immer besser zu wissen, was man glauben darf und was nicht.

Wenn Allgemeinbildung die Weisheit des wissenden Nichtwissens meint, dann hängt alles von der Begriffsschärfe ab, mit der diese Trennung gelingt, und von der Fülle des Bildungswissens, mit dem der geschichtliche Horizont seine Ortsbestimmung findet. Es geht also um die Kombination einer Philosophischen Logik, (die begrifflich die unbedingten Prämissen klärt, auf die wir grundsätzlich Argumente beziehen, wenn wir Wissen und Nichtwissen unterscheiden), mit einem Erfahrungswissen, das unsere geschichtliche, vor allem auch kultur-, philosophie- und wissenschaftsgeschichtliche Situation erhellt, so daß wir allgemeines Grundwissen in konkrete Praxis verantwortlich umsetzen können. Beides zusammen erlaubt es uns faktisch, in einem intersubjektiv konsistenten Sinn genauer zu sagen, was wir mit Worten begrifflich meinen, wenn wir argumentieren. Aktuell kennzeichnet beides zusammen den Geist einer lebendigen Bildungsatmosphäre, in der Allgemeinbildung sich kreativ problemorientiert vermitteln kann.

Eine globale, pluralistisch verfaßte friedliche Weltgesellschaft bedarf der Erneuerung des Begriffs der Allgemeinbildung zur eigenen Selbstbehauptung. Denn je mehr die Rationalisierung aller Lebensbereiche fortschreitet, je mehr Informationen zugänglich werden und je mehr Möglichkeiten den Subjekten sich eröffnen, umso beschränkter werden die Gesichtskreise, innerhalb derer ein einzelner noch genau Bescheid wissen kann, umso isolierter werden die kommunikativen Kontexte und umso zufälliger wird alles, was wir tatsächlich tun, gemessen an unseren Wahlmöglichkeiten. Richtig verstandene Allgemeinbildung hat im unausweichlichen globalen Prozeß der gesellschaftlichen Desintegration das grundsätzliche Orientierungswissen bereitzustellen, das die anderen Integrationsmechanismen wie Familie, Staat, Kommunen, Recht, Öffentlichkeitsmedien, Parteien, Vereine, Wirtschaft, Straßenverkehr, Kultur, Sport usw. nur jeweils bedingt repräsentieren, nicht aber unbedingt reflektieren können.

12. Wahrheit

Wenn Allgemeinbildung im Geist von Pfingsten als Herrschaft des Arguments alle im unbedingten Wahrheitswillen verbindet, dann vermittelt sich gesellschaftliche Integration normativ durch die kommunikative Mächtigkeit der Idee der Wahrheit. Je größer die Chance der Wahrheit ist, umso größer ist die Chance des Friedens und umso wahrscheinlicher ist es, daß freiheitliche Verfassungen nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Realität ihren Idealen entsprechen. Für fehlenden Wahrheitswillen aber trägt jeder einzelne selbst die Verantwortung, wenn auch nicht allein: Gesellschaftliche Strukturen und mangelhafte Allgemeinbildung der Öffentlichkeit können erheblich dazu beitragen.

Fehlt es an Allgemeinbildung in dem Sinn, unbedingte Wahrheit im wissenden Nichtwissen begründen zu können, dann wird kritische Öffentlichkeit hyperkritisch, Besserwisserei wird chronisch, Idealen kann dann jederzeit nacktes Eigeninteresse unterstellt werden, was Intellektuelle wie Rudolf Augstein schon so verinnerlicht haben, daß sie gar nicht mehr an die Kraft der Ideen glauben können. Dementsprechend relativieren sie das Böse. Bei zunehmender Anonymität gesellschaftlicher Systeme und wachsender Kompliziertheit normativer Regelungen wird dann der alltägliche Umgang mit der Wahrheit an der Basis immer laxer, in funktional bestimmten Erfolgssystemen schwindet langsam das Ethos, und täglich werden es mehr, die nach dem Motto handeln: ,Laß dich nicht erwischen."

Umgekehrt droht ohne reflektierte Allgemeinbildung bei fehlender Kritik und Selbstkritik in jeder moralischen Gemeinschaft der Rückfall in die Barbarei unbedingter Gewissensverlogenheit. Wir haben in Serbien gesehen, wie innerhalb Europas eine intellektuelle Öffentlichkeit moralisch kollabieren kann, indem sie nicht mehr auf faktische Wahrheiten reagiert. Weiten Kreisen unserer hyperkritischen westlichen Öffentlichkeit aber war dafür, für die Genesis des Bösen, aus falsch verstandener Toleranz längst die Sensibilität, gestandenen Linken, wie etwa Peter Glotz, gar das Sensorium abhanden gekommen. Dabei hätte, wer nur wollte, alles rechtzeitig wissen können:

,Man macht sich keine Vorstellung davon", schrieb Dunja Melcic bereits am 30.7.91 (,Gesellschaftstheoretiker im Krieg") zu Beginn des Kroatienkrieges in der taz, ,wie sehr der Zerfall Jugoslawiens auch ein moralischer Verfall einer seiner Eliten ist....Da ist von schier wahnsinnigen Verschwörungen die Rede,..einer Verschwörung der faschistischen Achsenmächte Deutschland, Österreich, Ungarn und Italien, die durch die Teilung Jugoslawiens den Grundstein für ein ,Viertes Reich" legen wollen....Da wird mit Vorliebe ausgeführt, daß die Kroaten genetisch zu Völkermord neigen und andersherum die Serben genetisch nicht dazu in der Lage seien, Augen auszustechen.... In Jugoslawien selbst ist auf absehbare Zeit keine gemeinsame Sprache zu finden. Es droht eine Katastrophe blutigen Ausmaßes. Will Europa das verhindern, so muß es damit beginnen, in Jugoslawien den Dingen wieder den richtigen Namen zu geben. Und das sollte keine Aufgabe der westlichen Intellektuellen sein?"

Dunja Mecic predigte tauben Ohren, so wie die vielen anderen taz-Autoren usw. auch, die bereits im Jahre 1991 die Katastrophe an die Wand malten. In Ruanda sind eine Million Menschen hauptsächlich durch die Pogromhetze eines einzigen Propagandasenders ums Leben gekommen. Zehn Jahre hat die westliche Welt tatsächlich gebraucht, einen notorischen Lügner, wie Milosewic, beim Wort zu nehmen, obwohl man doch mit Gorbatschow gerade die Erfahrung gemacht hatte, welches Gewicht die Wahrheit im Kampf um den Frieden hat: Eine einzige vertrauensvolle Person in verantwortlicher Position hatte genügt, ganze Raketenwälder über Nacht abzuräumen.

13. Grundkonsens

Fehlende Allgemeinbildung zersetzt nicht nur das Wahrheitsbewußtsein, sondern nagt auch an dem faktischen gesellschaftlichen Grundkonsens, der sich über die Zwänge des Neben- und Miteinanders organisch herstellt. Individuelle Überzeugungen werden dann immer vordergründiger, traditionelle Verankerungen in Werten immer brüchiger. Die politischen Grunderfahrungen der abendländischen Menschheit sind zwar mehr oder weniger gut begründet in unseren freiheitlich demokratischen Verfassungen präsent, in Konfliktfällen aber zeigt sich immer wieder, wie wenig argumentativ gefestigt deren Grundverständnis ist. Der Konfliktfall aber ist es, der das nackte Wesen zum Vorschein bringt, und es gibt keinen gesellschaftlichen Mechanismus, der ihn auf Dauer stillstellen könnte: Konflikt ist Grenzsituation!

Bei abnehmender Allgemeinbildung ist für zukünftige krisenhafte kollektive Entscheidungskonflikte das Schlimmste zu befürchten. Panik ist angesagt, wenn Vernunft, wie so oft bei schwieriger Begründungsfindung, in letzten Fragen nicht mehr identitätsstiftend wirkt und statt dessen Ideologien, Pseudowissenschaft, religiöse Fundamentalismen, mythische Nationalismen, Rassismen, kapitalistischer Fatalismus, simpler Sozialneid oder auch nur der nackte Opportunismus der vielen Mitläufer ihren ach so schlecht verschlossenen Gräbern entsteigen: Die Studentenrevolution von 68 hat demonstriert, wie leicht es auch in der sogenannten freiheitlich-demokratischen Welt immer noch oder wieder ist, den öffentlichen Grundkonsens über Freiheit als Scheinkonsens zu entlarven und zu destabilisieren. Was wurde in seinem Gefolge nicht alles öffentlich grundsätzlich strittig, etwa in den Debatten um den Terrorismus, die sogenannten Berufsverbote, den NATO-Doppelbeschluß, den 2.Golfkrieg und jetzt den Kosovokrieg!

Vergleichen wir heute den faktischen Grundkonsens in Wissenschaft und Technik mit dem unserer politischen und kulturellen Öffentlichkeit, blicken wir auf eine ungeheure Diskrepanz: Im quantifizierbaren Bedingten leisten wir immer mehr, wenn es aber um das Unbedingte von qualitativen Grundüberzeugungen und Entscheidungen geht, sind wir zerstrittene Zwerge geblieben. Und die Experten für das Generelle machen alles nur noch umso schlimmer: Ein Cicero hatte noch keine Ahnung von Mikroelektronik, aber vom Menschen hat er viel gewußt und von Politik, so scheint es mir, kann man immer noch mehr von ihm lernen als von den vielen, die sich heute Soziologen, Politologen, Futurologen oder gar Friedensforscher nennen!

III

14. Aktuelle Situation

Die grundsätzliche Krise der öffentlichen Allgemeinbildung wird heute mit Berufung auf einen Pluralismus verdrängt, dessen Spielregeln nur noch rechtlich interessieren. Wenn Recht dann selbst ins Zwielicht des Konflikts gerät, ruft man nach der Justiz oder überläßt es den Medien, sich daran abzuarbeiten. Wenn es politisch gestaltet und mit Inhalten gefüllt werden soll, um moralisch zu genügen, ist die Tagespolitik als Parteipolitik an der Reihe. Als getragener Ausdruck eines sogenannten fortschreitenden gesellschaftlichen Bewußtseins orientiert sich diese inzwischen immer mehr an den laufenden demoskopischen Umfragen. Alles, was in diesem Kreislauf heute sonst noch mit Anspruch auf Autorität steuernd eingreifen könnte, hat inzwischen abgedankt. Das gilt gleicherweise für Wissenschaft wie Philosophie.

Experten haben zwar als Sachgutachter in einer immer komplizierter werdenden Welt für Begrenztes zunehmend Gewicht, die unbegrenzte Expertengläubigkeit ist aber im Zeichen von Postmoderne stark im Abnehmen. Die Sozialwissenschaften haben spätestens seit 1989 für jedermann sichtbar bewiesen, daß ihre methodologischen Grundlagen für grundsätzliche Orientierung nicht ausreichen, (weil sie sich Max Webers Methodologie trotz intensivster Bemühungen immer noch nicht zureichend gewachsen zeigen). Es ist still um sie geworden, ebenso wie um Psychologie und Psychoanalyse, von anderen generalisierenden Modewissenschaften gar nicht zu reden.

Und jene Institution, die eigentlich für Allgemeinbildung zuständig wäre, die Philosophie, verharrt weiter in der Selbstblockade akademischer Schulstreitereien, oder sie müht sich unter dem Titel ,Postmoderne" darum, noch mehr grundsätzliche Relativität und Beliebigkeit für die moderne Konsumgesellschaft bereitzustellen. Da wird z.B. in emsiger Betriebsamkeit immer wieder erneut theoretisch begründet, warum es ,in Wahrheit" keine Wahrheit gibt und der Wahrheitsbegriff, weil sinnlos geworden, eigentlich abzuschaffen sei: So, als ob es nicht nötig wäre zu sagen, was man mit dem meint, was es da abzuschaffen gilt, und so, als ob nicht jede ordinäre Lüge das praktische Werk dieser Abschaffung von selbst erledigte!

Zum Frieden liefern Philosophen nach Kant kaum noch nachhaltig einflußreiche Beiträge, der Öffentlichkeit haben sie heute als Zunft buchstäblich nichts mehr, weil nur Widersprüchliches oder Weltfremdes, zu sagen. Auch die Ausnahmen werden immer weniger, die letzte deutsche war Karl Jaspers. Mehr als dreißig Jahre ist es nun schon her, daß sein Buch ,Wohin treibt die Bundesrepublik" zwei Jahre lang an der Spitze der Bestsellerliste des deutschen Buchhandels gestanden hat und stürmische Debatten in Medien und an Universitäten ausgelöst hat! Kein zweites philosophisches Werk hat seither diesen politischen Einfluß noch erreichen können.

An den beiden großen Kontroversen der letzten Monate, der Walser- und der Kosovodebatte, haben Philosophen auch nicht mehr teilgenommen. Als der erklärte Parteigänger für Vernunft, Jürgen Habermas, doch einmal in der ZEIT (29.4.99) sein Machtwort zum Kosovokrieg versuchte, machten die vielen Leserbriefe überdeutlich, wie wenig es ihm gelungen war, seine Argumente plausibel einzubringen und den von ihm postulierten diskursiven Grundkonsens verständlich zu machen. Dementsprechend sehen sich Öffentlichkeit und Politik heute von den Reflexionsexperten allein gelassen. Das letzte Wort haben dann oft Verfassungsrichter: Wie aber sollen Experten des bedingten Rechts zu jenen der unbedingten Wahrheit sich weiterentwickeln, wenn sie nicht ihrerseits zu Philosophen werden wollen?

15. Walserdebatte

In der Debatte um Martin Walsers Friedenspreisrede von 1998, die sehr emotional eine gewisse ideologische Instrumentalisierung von Auschwitz beklagte, haben es weder Politiker noch Philosophen gewagt, öffentlich einzugreifen. Im so sich selbst überlassenen Feuilleton tobte eine Auseinandersetzung, deren schizophrener Grundzug jeden Beitrag zu begleiten schien: Die Gegner Walsers ließen stets durchblicken, daß die von Walser angeprangerte ,Auschwitzkeule" in Einzelfällen ihnen selbst auch schon mal begegnete, die Verteidiger haben meist direkt oder indirekt zugestanden, daß auch ihnen der Ton des Meisters nicht ganz behagte. Eine vermittelnde Klarstellung aber habe ich nirgendwo finden können. Es gab nur Kompromisse!

Mit Ausnahme von zwei Leserbriefen in der ZEIT ist es mir trotz intensiven Suchens nicht gelungen, einen Beitrag zu finden, der einmal der Frage nachgegangen wäre, was denn Martin Walser unter Gewissen versteht, auf das er sich so unerbittlich wie pathetisch beruft. Niemand hat deswegen meines Wissens einmal hervorgehoben, daß die beiden Gewährsmänner, die er in der Rede explizit anruft, seine südwestdeutschen Landsleute Hegel und Heidegger, höchst zweifelhafte Kronzeugen eines gültigen Gewissensbegriffes sind.

Denn Hegel hat das Gewissen am Ende totalitär der Gemeinschaft überantwortet, konnte deshalb bei Nazi-Juristen zur beliebten Berufungsinstanz gegen Kant avancieren. Heidegger hat das Gewissen seit 1945 irrational einem unfaßbaren Sein überantwortet, in Berufung auf das es ihm selbst, dem ehemaligen Freiburger NSDAP-Rektor, möglich wurde, niemals zu eigenen Schuldverstrickungen auch nur ein Wort sagen zu müssen. Obwohl also der eigentliche argumentative Streitpunkt gar nicht erst zur Erscheinung kam, bewegte sich die Walserdebatte über Monate bei hohen Betroffenheitsgraden so intensiv fort, als handle es sich um den Kampf zwischen Gut und Böse. Ein Beispiel mehr für die begriffliche Oberflächlichkeit heutiger sogenannter Grundsatzdebatten: Der sogenannte Historikerstreit der achziger Jahre, in dem die geschichtliche Einmaligkeit von Auschwitz, so ausufernd wie unergiebig, strittig war, läßt grüßen!

16. Kosovodebatte

Noch drastischer, weil öffentlich spektakulärer, zeigte sich jüngst in der Kosovodebatte wieder, wie brüchig der Grundkonsens in der freiheitlichen Welt heute ist, wenn es z.B. um Krieg oder Frieden geht und Urteilskraft in Konfliktsituationen gefordert ist. Überraschende Positionswechsel waren da zu beobachten, ehemalige Pazifisten wie Erhard Eppler , Günter Graß oder Ludger Vollmer mußten sich als Kriegstreiber beschimpfen lassen von Leuten, die plötzlich einen Henning Vorscherau, Peter Scholl-Latour, Grögory Konrad und, mit Vorbehalt, selbst einen Helmut Schmidt zu den Ihren zählen durften: Einen Helmut Schmidt z.B., der sich nach seiner späten innerparteilichen Rehabilitierung anläßlich des 80. Geburtstags im Januar dieses Jahres jetzt noch einmal, aber in umgekehrter Frontstellung wie damals beim NATO-Doppelbeschluß, von seinem Enkel Gerhard Schröder sagen lassen mußte: ,Auch ein Helmut Schmidt kann sich einmal irren!"

Um das Recht auf eigene Meinung geht es in diesem Zusammenhang nicht, aber um die Art und Weise, wie Meinungen artikuliert, Tatsachen und Wertungen miteinander verquickt wurden, wie man Rechtfertigungs- und Strategiefragen auseinanderhielt oder auch nicht und vorgefaßte Erwartungshaltungen prüfte, Situationen neu bestimmte und vor allem grundsätzliche Verantwortung im ganzen konstruktiv wahrnahm. Im übrigen ist nicht jede Äußerung schon eine eigene Meinung. Um Meinung im vollen Wortsinn handelt es sich ja erst dann, wenn implizit eine Rechtfertigung für Folgen und Nebenfolgen mitvertreten wird! Das scheint vielen Redakteuren und Kommentatoren so nicht immer bewußt zu sein. Selbst Verfassungsrichter haben hier Nachholbedarf, erinnern wir uns nur an den damaligen Urteilsspruch zum Aufkleber ,Soldaten sind Mörder".

Wird der implizite Rechtfertigungsanspruch einer Meinung nicht ernst genommen, dann behauptet man zu viel, weil man zu wenig definiert und begründet. Allenthalben wurde nur selten bedingt argumentiert, dafür schrieb man längst festsitzende Grundüberzeugungen über Krieg und Frieden, Recht und Moral, Erfolg und Mißerfolg von Situation zu Situation unflexibel fort, was ganz kontrovers bleiben mußte, weil andere von anderen Prämissen her ähnlich rigoros zu gegenteiligen Auffassungen kamen. Darüber hinaus war es ein Glücksfall, stieß man einmal auf die Explikation von Allgemeinbegriffen wie Frieden, Freiheit, Wahrheit, Vernunft, Moral, Recht, Objektivität, Böses usw., wenn auf deren Sinn Bezug genommen wurde. Logisch, daß es seltene Ausnahme bleiben mußte, wenn einmal die Sache selbst sachlich zur Sprache kommen wollte!

Einige Beispiele sollen das verdeutlichen. Da wetterten die Friedenskämpfer Franz Alt und Eugen Drewermann gegen den Moloch Krieg, indem sie auf jeden den Bannstrahl richteten, der auch nur eine Rechtfertigung im Einzelfall in Erwägung zog. Dabei definierten sie aber nie ,Krieg" , so daß stets unklar blieb, welches Muster von Krieg ihnen jeweils gerade vor Augen schwebte: Ob Erster oder Zweiter Weltkrieg , Vietnam-, Golf- oder Kosovokrieg. Meinten sie gar alle Kriege zusammen in einem Sammelbegriff? Nur, wie sollte man den definieren? Ganz unbeantwortet ließen sie jedenfalls, ob die Praktiken eines Pol Pot, Saddam Hussein oder Milosevic gegen ihre eigenen Völker auch mit der Etikette ,Krieg" zu versehen ist und wie sie diese von Eingreifaktionen großen Ausmaßes unterscheiden, mit denen man vielleicht in Ruanda hätte einen Völkermord verhindern können. Wo liegt genau der Unterschied zwischen einer Polizeiaktion und Krieg usw.?

Auch Journalisten sahen bei dem Wort ,Krieg" überwiegend rot, vor allem, wenn sie die NATO dabei ins Visier nahmen. Kaum begann das Bombardement im März, verkündete Martin Schulze apodiktisch in den ARD -Tagesthemen, daß ganz sicher die UNO am Ende der große Verlierer sein würde. Ich erinnere mich noch an Heribert von Löwies? DLF-Frühkommentar am Ostersonntag, 6 Uhr, der mit der größten Selbstverständlichkeit NATO und Böses auf eine Stufe stellte! In einer Diskussionsrunde dieses Senders mußte sich ein Bildzeitungsredakteur unwidersprochen mangelnde Objektivität, gar ,Betroffenheitsjourna-lismus" vorhalten lassen, weil seine Zeitung Milosevic einmal einen Schlächter genannt hatte. Unwidersprochen blieb in derselben Runde auch, daß bei den Serben und der NATO gleicherweise gelogen würde.

Dann waren da die vielen Prominenten! Theologieprofessorin Uta Ranke-Heinemann z.B. ließ sich von der PDS zur Bundespräsidentenkandidatin aufstellen, weil diese Partei angeblich als einzige in Deutschland ,für den Frieden" sei. In einer Phönix-Diskussionssendung behauptete der Nestor der deutschen Friedensbewegung und Psychoanalytiker der Nation (in der Nachfolge von Alexander Mitscherlich), Horst Eberhard Richter, einen Sieg der NATO könne ja niemand wollen, und die ,linke" Theologin Dorothea Sölle fügte hinzu, die NATO brauche eben immer einen Feind, und wenn sie keinen habe, erfinde sie sich einen - Milosevic also eine Erfindung? Das war dann realitätsspezifisch gar nicht mehr so weit entfernt von der bereits anläßlich des Golfkrieges sattsam bekannten These des Philosophen Jean Baudrillard, moderne Kriege wären gar nicht mehr ,wirklich", vielmehr nur noch virtuell, weil sie überwiegend auf den Bildschirmen stattfänden.

Kaum einer in der Debatte ließ erkennen, daß er im Umgang mit dem Gegner sauber zwischen der grundsätzlich kontroversen Rechtfertigungsfrage einerseits und Fragen der NATO-Strategie, (über deren teilweise dilettantische Fehler ja sehr viel mehr gegenseitiges Einverständnis unterstellt werden konnte), zu unterscheiden vermochte. Sehr viele, vor allem Völkerrechtler, thematisierten daneben das grundsätzliche Moral- und Rechtsverständnis so einseitig, daß moralische und rechtliche Präzedenzfälle strategisch gar nicht mehr auseinandergehalten und gegenseitig abgewogen werden konnten. Jeder mögliche Sinnkonsens einer verantwortungsethischen Metaebene war auf diese Weise schon im Ansatz per ,Normenkeule" verspielt.

Dabei hätte schon die gemeinsame Erinnerung daran, daß ethisches Handeln immer im Konflikt steht und daß es dabei lediglich um ein mehr oder weniger Schuldigwerden geht, das intransigente Pro und Kontra in den Medien und auf den Parteitagen erheblich versachlichen können. Als beispielsweise Erich Eppler auf dem letzten SPD-Parteitag, seinen Frontenwechsel vom Pazifisten zum ,Bellizisten" begründend, dann doch einmal die Metaebene streifte, indem er seinen persönlichen ethischen Grundkonflikt als tragische Grundsituation beschwor, wirkte dies prompt bei den Zuhörern. Nach seiner Rede wurde auf Antrag trotz weiterer 33 Wortmeldungen die Debatte mehrheitlich abgebrochen, weil wohl die meisten fühlten, daß danach kaum mehr Neues zu erwarten war.

IV

Schule

Was recht verstandene Allgemeinbildung leisten kann, zeigten mir die vielen Schülerarbeiten zum Kosovo, in denen nicht ein Hauch der öffentlichen Konfusion wiederzufinden war. Wenn der Pfingst-SPIEGEL dieses Jahres titelte, ,die Bomben auf Belgrad verändern auch die Moraldebatte der postmodernen Spaßgesellschaft", dann hat diese Schülerschaft bis hin zur Mittelstufe in den letzten Monaten auffallend viel Spaß bei aktuellen Tagesthemen bekundet, von einer Irritation im Moralbewußtsein im Verlauf der Beschäftigung mit dem Kosovothema aber war nichts zu bemerken.

Den Grund dafür sehe ich darin, daß zwischen Naturzustand, Recht, Moral, Gewissen und Vernunft begründet unterschieden werden konnte. Am Maßstab eines grundsätzlichen Orientierungswissens waren die Schüler subjektiv in der Lage, eine konkrete geschichtliche Situation vernünftig zu identifizieren und verantwortlich zu beurteilen. Solche Erfahrungen dürfen ermutigen. Was Schule als Basisinstitution demokratischer Erziehung grundsätzlich zu leisten vermag, zeigt sich ja dann erst, wenn der Unterricht sich gleicherweise öffnet für aktuellste Fragestellungen wie grundsätzlichste Orientierung. Dann können Inhalte auch wieder motivieren! Schulpolitik muß deshalb aufhören, ,von Äußerlichkeiten, von Fragen der Unterrichtsstruktur und Unterrichtsmethodik sich blenden zu lassen", fordert in diesem Sinn jetzt auch der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Kraus (FAZ,15,6,91).

Wenn heute irgendwo dem globalen Orientierungsdefizit mit berechtigter Hoffnung auf Erfolg entgegengewirkt werden kann, dann ist es in der Schule. Was Freiheit und Demokratie ist, wird hier gelernt oder meist nie mehr richtig. Die Aufgabe des sogenannten sozialen Lernens muß deshalb viel ernster genommen werden als bisher, wenn Freiheit langfristig gewahrt und am Ende die Menschen in Würde überleben wollen. Insofern gehört beides in die Schule: Fachwissen durch die vielen Lernfächer und Orientierungswissen durch Philosophie, Gemeinschaftskunde usw.. Erst die gelungene Synthese von Sach- und Reflexionswissen macht die gute, weil geistig lebendige Schule aus. Das neue Schulgesetz ermuntert in diesem Sinn zu freiwilligen Initiativen. Von welcher Schule sollte man hier mehr Engagement erwarten dürfen, mit gutem Beispiel voranzuschreiten, als von einer, die den Namen ,Immanuel Kant" trägt?

Eine Hürde aber ist bei dieser Zielsetzung besonders hoch: Es muß überhaupt erst eine gemeinsame Sprache geschaffen werden, um kooperativ das Ziel angehen zu können. Als ich mich neulich bei einem sehr prominenten Kollegen darüber beschwerte, daß die Lehrkräfte ihre Aufgabe der Fortbildung zu leicht nähmen, bekam ich als entschuldigende Antwort: Fortbildung hätte auch Nachteile, weil dann zu viele Stunden ausfallen würden. An diese Art von Fortbildung hatte ich überhaupt noch nicht gedacht!

Schüler

Die Erfahrung lehrt, daß sich auf Schüler verlassen kann, wer orientierend motiviert. Wenn Pfingsten an die Schule kommen soll, dann ist es hier ja längst angekommen, so unverhohlen spontan entlud sich die Begeisterung: Wenn es eingangs der Apostelgeschichte heißt, daß die Jünger voll des Heiligen Geistes mit anderen Zungen zu reden begannen, - wobei sich Außenstehende dies nur so erklären konnten, daß sie betrunken waren - , dann ähnelt das schon etwas dem, was bei diesem Jahrgang in den letzten Monaten zu beobachten war. Honni soit, qui mal y pense!

Für das Phänomen dieses ,Pfingstwunders" an unserer Schule gibt es natürlich mehrere Deutungen. Denn so wenig die Jünger damals genau erklären konnten, was in ihnen vorging, mag es auch den Schülern gegangen sein, wenn sie ,Peter!", ,Peter!" riefen. Eine Erklärung ist sicher die große Entfaltungsmöglichkeit im Schriftlichen, die dieser Jahrgang in freien Arbeiten erstmals dazu nutzte, reichlich das Internet anzuzapfen. Irgendwie mußte es auf diese Weise mehr Spaß gemacht haben als früher, so sehr, daß dieser Jahrgang der erste war, der sich nach bestandenem Abitur gar nicht mehr richtig von der Schule trennen konnte. Sie kamen immer wieder in den Unterricht! So eine lockere Atmosphäre habe ich bis heute an einer Schule noch nicht erlebt!

Das stünde dann symptomatisch für eine neue Schülergeneration, die zwar Sprachen und Naturwissenschaften immer noch so pauken muß wie eh und je, in den Reflexionsfächern dagegen soviel Freiheit bekommt, daß sich Urteilskraft selbständig problemorientiert entfalten kann. Weil der philosophische Leistungsstand auch noch niemals so hoch gewesen ist wie bei diesem Jahrgang, verbleibe ich in der Hoffnung, daß auch ein wichtiger Grund für unser ,Pfingstwunder" grundsätzliche Orientierung war, und daß diese nachhaltig fruchtbar sein möge!

Zum Schluß: Nachhaltige Bildung meint heute lebenslanges Lernen, nur Weichen sind gestellt! Einiges von dem, was im Unterricht wichtig war, habe ich hier in verändertem Kontext zur Nachprüfung zusammengefaßt. Ich schließe mit der Erinnerung daran, daß die Wirklichkeit das Wunder aller Wunder ist und jeder bestimmbare Wirklichkeitsbegriff als etwas Wirkliches ein kleines Wunder im Wirklichen meint. Jeder Wirklichkeitsbegriff kann deshalb auch Pfingstbegriff heißen, insofern der Heilige Geist ihn uns so vermittelt, daß wir nicht glauben müssen und doch eine Offenbarung erleben dürfen.