18.04.01
Kant und Wahrheit
(An
Otto Cramer)
Zum Begriff
Wahrheit
ist in Wahrheit und iin Wirklichkeit intersubjektives
Sein in folgenden Bedeutungen a) Richtigkeit (eigener Intersubjekivitätskern),
b) Wahrhaftigkeit (verantwortete Wahrheit), c) Entsprechung (erkannte und objektive
Wahrheit), d) Evidenz (mögliche Wahrheit) und Unbedingtheit (begriffene
Wahrheit als Einheit der vier Bedeutungselemente).
.
Kant hat Wahrheit in Wahrheit und in Wirklichkeit
noch nicht unterschieden und als ihr Bedeutungselement lediglich Entsprechung
angegeben: Was ist Wahrheit? Die Namenerklärung der Wahrheit, daß
sie nämlich die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande
sei, wird hier geschenkt und vorausgesetzt (KrV, A 58). Weil man deswegen
Kant auf eine sogenannte Korrespondenztheorie der Wahrheit festnageln konnte,
ist viel mißverständlicher Widerspruch entstanden, vor allem hat
Hegel Kants defizitäres Wahrheitsverständnis schonungslos aufgedeckt.
Zu Kants Entschuldigung muß man heute aber sagen, daß Wahheit in
der abendländischen Philosophiegeschichte explizit erst nach Descartes,
genau bei Malebranche, thematisch wurde.
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Das Problem
Kant
wendet sich 1797 in seiner vorletzten Veröffentlichung (Über
ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen) explizit gegen Benjamin
Constants (von Kant herausgegriffene) Unterstellung, daß die Wahrheit
zu sagen nur gegenüber demjenigen eine Pflicht sei, der ein Recht auf Wahrheit
habe. Kants Diktum lautet: Es ist also ein heiliges, unbedingt gebietendes,
durch keine Konvenienzen einzuschränkendes Vernunftgebot: in allen Erklärungen
wahrhaft (ehrlich) zu sein. Es sieht also so aus, als ob Kant im Konfliktsfall
verlangt, z.B. einem potentiellen Mörder das Versteck seines Opfers zu
verraten, das man kennt.
Kant bezeichnet
in diesem Zusammenhang Wahrhaftigkeit als subjektiv und behauptet
einen logischen Selbstwiderspruch in der Position seines Gegners mit folgendem
Schlußargument: Alle rechtlich-praktischen Grundsätze müssen
strenge Wahrheit enthalten, und die hier genannten mittleren können nur
die näher Bestimmung ihrer Anwendung auf vorkommende Fälle (Nach Regeln
der Politik), aber niemals Ausnahmen von jenen enthalten; weil diese die Allgemeinheit
vernichten, derentwegen allein sie den Namen der Grundsätze führen.
Kant wehrt sich also am Leitfaden des Kategorischen Imperativs gegen die Verallgemeinerung
zu einem rechtlich-praktischen Grundstz, weil dies das rechtliche Grundsatzprinzip
selbst ad absurdum führen würde. Macht uns damit aber Kant nicht im
Namen der Wahrheit zum Sklaven des (positiven) Rechts? Folgt verantwortliches
Handeln stets auch rechtlichem?
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Selbstwiderspruch?
Der behauptete
Seblbstwiderspruch ergibt sich nur dann, wenn man die Verallgemeinerungsproblematik
a) wie Kant auf den Begründungszusammenhang von Recht überhaupt bezieht,
nicht auf eine mögliche praktische Rechtssetzung, b) dieses strikt von
Moral trennt, was Kant im Kontext explizit unterläßt und c) dementsprechend
Wahrhaftigkeit als die vor mir selbst (vgl. Metaphysik der Sitten,
428) zu verantwortende Wahrheit strikt von Richtigkeit als Aussagenwahrheit
unterscheidet, was hier Kant ignoriert. In a) bezieht sich Kant so abstrakt
wie isoliert von der praktischen Anwendung auf Recht überhaupt im Sinne
seiner Idee als prinzipielle Regelung von Nebeneinander, was keine situationsspezifische
Besonderheiten zuläßt, ohne vom Begriff her aufzuhören, universal
zu sein, In b) hat Kant zum Zeitpunkt der Abfassung seiner Rechtslehre als Doktrin
(Metaphysik der Sitten.) den konstitutiven Konflikt zwischen Recht
und Moral aus den Augen verloren, so daß er in c) auch gar nicht erst
auf den Gedanken kommt, den subjektiven Sinn von Wahrhaftigkeit. verantwortungsethisch
zu explizieren.
Um
Kants Kritische Philosophie dagegen in Schutz zu nehmen: Ob und wie und ob überhaupt
ich in jeder besonderen Situation die Wahrheit sagen soll, ist primär kein
rechtliches, sondern moralisches, ethisches und l in letzter Instanz individuell
zu verantwortendes Thema in dieser Reihenfolge: Moral bricht Recht, muß
dabei
aber die rechtlichen Konsequenzen tragen, Ethos bricht Moral, muß dafür
die Ausgrenzung aus der Gemeinschaft riskieren, der Kategorische Imperativ kann
auch gegen das eigene Gewissen sein Veto erheben und Angesichts unübersehbarer
Folgen und Nebenfolgen zur Klugheit mahnen, auch wenn es den augenblicklich
drängendsten ethischen Impulsen widerspricht. Das ist der Geist von Kants
kritischer praktischer Philosophie, der zum ersten Mal im Abendland Verantwortung
zum Prinzip des Sollens erhebt, ohne dies allerdings so auch explizit beim Namen
zu Nennen. Den Preis dafür hat der alte Kant bezahlt, der nach dem Abschluß
der Kritik der Urteilskraft sein Publikum ausdrücklich mit
dem bevorstehenden Programmwechsel vertraut machte: Hiermit endige ich
also mein ganzes kritisches Geschäft. Ich werde unversäumt zum doktrinalen
schreiten. (Kr U, X) Daß er die Französische Revolution bejubelt,
ist eine Sache, daß er weiß, daß es kein Recht auf Revolution
geben kann, ist eine andere. Daß man die moralischen Prinzipien eines
nötigen Widerstandes auch als Widerstandsrecht selbst ins Recht aufnehmen
kann, und zwar im Namen der Kritischen Philosophie, das hat der Kant der Doktrin
nicht mehr zugelassen. Dazu war die transzendentale Begriffsbasis in der bloßen
Subjekt-Objekt-Beziehung noch nicht weit genug!
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Auflösung
Kant
hat gegen Constant auch heute noch Recht, wenn am Sinn von Wahrhaftigkeit
als vor mir selbst zu verantwortende Wahrheit festgehalten wird. Die Richtigkeit
einer Aussage muß dann auch noch verantwortet werden und kann einem herrschenden
Rechtsbewußtsein widersprechen, wenn es sich mit diesem nicht verwechselt.
Die rechtlich zulässige Lüge setzt unbedingte Wahrhaftigkeit voraus.
Unbedingte Wahrhaftigkeit ist der Garant dafür, daß das Recht auch
noch in der Lüge Recht bleibt.
Philosophisch führt deswegen die konsequente Weiterentwicklung
von Kants Ethik zu dem, was Max Weber zuerst Verantwortungsethik nannte. Konsequente
Verantwortungsethik impliziert aber ein vorurteilsfreies Wirklichkeitsverständnis
als notwendiges Resultat einer Grundhaltung, der auch noch die allerletzten
Prinzipien rechenschaftspflichtig sind. Kant war noch nicht vorurteilslos genug!
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Resümee
Stellen
wir heute Kants Begriffsbasis in den weitest denkbaren Horizont von Wirklichkeit
überhaupt, können wir ihre immanenten Paradoxien auflösen und
zugleich ihren kritischen Gehalt so würdigen, daß die große
Herausforderungen durch die späteren Gegner, etwa durch Hegel oder Heidegger,
immer noch zu seinen Gunsten ausfällt. So wie Newtons Mechanik im Bereich
des Sonnensystems immer noch gültig ist, auch wenn Einstein gezeigt hat,
daß sie am kosmischen Maßstab gemessen in Widersprüche führen
muß, so ist Kants transzendentale Erkenntnistheorie auch heute noch fruchtbar,
selbst wenn sie gemessen an einem Horizont, dem Erkenntnis seinerseits noch
ein Phänomen in der Wirklichkeit ist, den Urheber in seinem späten
doktrinalen Streben zu zeitbedingten, rationalistisch-einseitigen und deshalb
praktisch unvernünftigen Trennungen verleitete.
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