Karl Jaspers und Wirklichkeit

1.Vorbemerkung

Als Hannah Arendt in ihrer Laudatio auf Karl Jaspers zur Verleihung des Friedensspreises des deutschen Buchhamdels 1958 bekannte, dieser sei ..“in eigentlich jeder Hinsicht der einzige Nachfolger..., den Kant je gehabt hat“, da begegnete sie nicht nur dem Widerspruch Heideggers: Trotz Jaspers großer öffentlicher Breitenwirkung teilen bis heute nicht viele Experten diese Meinung. Es fragt sich, warum.

2. Wirklichkeit, Sein, Wahrheit.

Wenn „Wirklichkeit“ unhintergehbar alles ist, dann ist „Sein“ identifizierbare Wirklichkeit und „Wahrheit“ die intersubjektiv evident identifizierbare Wirklichkeit. Karl Jaspers hat in seinem großen Werk keinen dieser drei Begriffe jemals so präzise analytisch definiert, daß ein konstanter Wortgebrauch belegbar wäre. Statt dessen werden in unterschiedlichen Kontexten immer wieder erneut alle drei Begriffe so hinterfragt und phänomenal „erhellt“, daß sie einen jeweils bedingten und letzten unbedingten Sinn bekommen. Im Unbedingten verschwimmen ihm dabei alle drei Bedeutungen ununterscheidbar in einer nur Existenz indirekt zugänglichen Transzendenz (Existenzphilosophie), oder später, in einem nicht mehr gegenständlich zu denkenden sogenannten „Umgreifenden“ für Vernunft (Philosophische Logik).

Der späte Jaspers hat sich immer zu seinem Frühwerk, der dreibändigen „Philosophie“ bekannt, mit dem er zum ersten Repräsentanten dessen wurde, was schon bald „Existenzphilosophie“ genannt wurde. Die „Philosophische Logik“, im Vorwort der „Philosophie“ als ihr „zugehörig“ schon angekündigt, hat dann aber im Zusammenhang mit den Erfahrungen des Dritten Reiches zu einer ganz neuen Bedeutung von Vernunft geführt, die es erlaubt, von einer „Kehre“ ähnlich der Heideggers zu reden, nur umgekehrt: Während dort
die systematische Strenge einer Fundamentalontolgie aufgegeben wurde zu Gunsten eines unverbindlichen poetischen „Andenkens“, schreitet Jaspers von einer nur befreienden, appellativ erhellenden Exposition von Existenz zur transzendentalen Reflexion eines verbindlichen Rahmens, innerhalb dessen „Weltorientierung“, „Existenzerhellung“ und Metaphysik überhaupt erst möglich sind.

3. „Existenzphilosophie“

Um die Bedingtheit der Welt zu demonstrieren (Bd.I, „Weltorientierung“), die Freiheit der Existenz zu explizieren (Bd.II, „Existenzerhellung“) und das unerkennbare Ganze in seinen wissbaren Möglichkeiten bewußt zu machen (Bd.III, „Metaphysik“) sind hier Vernunft, aber auch Wahrheit und Wirklichkeit noch keine Themen, alles dreht sich um das Sichtbarwerden des eigentlichen Seins als Transzendenz. Von Wirklichkeit ist dabei die Rede umgangssprachlich inexplizit als „objektive Wirklichkeit“, „Wirklichkeitssphäre in der Welt“, „Wirklichkeitswissenschaft“ (Max Weber) usw. Behandelt wird sogar eine vierfache Gliederung der Wirklichkeit in der Welt (Materie, Leben, Seele, Geist). „Absolute Wirkliches“ aber ergreift nur die Existenz (Bd. III, 15), und folgerichtig heißt es im letzten Absatz des ganzen Werkes, mit Titel „Ruhe in der Wirklichkeit“: „Durch Dulden besteht die Welt des der Wirklichkeit offenen Menschen, dem das Sein der Transzendenz fühlbar wurde“ (Bd.III, 237)

In diesem Satz spiegelt sich alle Schwierigkeit der Existenzphilosophie: Wenn nicht gesagt werden kann bzw darf, was Wirklichkeit ist, kann bestritten werden, daß in der Wirklichkeit des absoluten Scheiterns des Erkenntniswillens in der Welt „wirklich“ ein „Sein“ der Transzendenz z.m. „fühlbar“ wird, das nicht nichts oder bloße Einbildung ist. Oder andersgesagt: Warum ist wirkliches Scheitern doch nicht wirklich?

4. „Philosophische Logik“

„Wirklichkeit“ wird jetzt („Von der Wahrheit“) vielfach mit Sein und Wahrheit verglichen, aber nicht, um denSinn zu präzieren, sondern nur, um das „in der Tat Unüberschreitbare“ (S.35) bewußt zu machen, denn es „entschwindet uns die Wirklichkeit, wenn wir sie wissen wollen“ (S.31). Statt dessen entwickelt Jaspers ein sogenanntes „Grundwissen“ (seit 1932 „Vernunft und Existenz“), das von nun an in allen seinen Veröffentlichungen als verbindliche Verständigungsgrundlage - meist explizit - vorausgesetzt wird. Es handelt sich um das Wissen, wie das Sein für uns immer ist, also der Idee nach um Transzendentalwissen.(Kant). Jaspers expliziert unhintergehbare Seinsweisen und nennt das Sein aller Seinsweisen das „Umgreifende“..Als unbedingter Ausgangspunkt dient ihm dabei ,wie Kant , die sogenannteSubjekt-Objekt-Spaltung unseres Erkennens. Seinsanalyse ist ihm Erhellung der Subjekt-Objekt-Spaltung.

Hegel, Heidegger und viele andere haben - gegen Kant und damit auch Jaspers - diesen Ausgangspunkt als voraussetzungsvoll grundsätzlich zu hinterfragen gesucht. Und es ist klar, daß sich Bedingungen der Möglichkeit denken lassen, die dem objektivierenden Erkenntnisprozeß konstitutiv vorausliegen. Im Folgenden läßt sich dies an den von Jaspers explizierten vier Schritten andeuten. („Von der Wahrheit“, 47ff und am anschaulichsten „Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung“, S.111ff).

1. Schritt

Trennung von Subjekt und Objekt als Letztgegebenheit überhaupt. - Aber: Subjekt und Objekt sind schon etwas Wirkliches. Damit das Subjekt ein Objekt haben kann, muß schon Welt existieren, und damit das Subjekt sich auf ein Objekt beziehen kann, muß zeitliche Wirklichkeit vorausgesetzt werden.

2. Schritt

Das Objekt zeigt sich als die Welt, dasSubjekt als Dasein, Bewußtsein überhaupt und Geist zugleich. - Aber: Wie kommt das Objekt zur Welt? Und Dasein, Bewußtsein überhaupt und Geist sind nicht nur subjektiv, sondern auch intersubjektiv. Wie kommt Bewußtsein überhaupt zum Einzelbewußtsein?

3. Schritt.

Im Ergreifen der Freiheit wird Subjektivität zur Existenz, Objektivität zur ermöglichten Transzendenz. - Aber:
Existenz und Transzendenz sind als Seinsweisen nur Möglichkeiten, keine Bedingungen der Möglichkeit.

4. Schritt

Die verbindende Vernunft denkt das Umgreifende als die Einheit von sieben gleichwertigen Weisen (Welt, Dasein, Bewußtsein überhaupt, Geist, Existenz, Transzendenz und Vernunft). - Aber: Faktisch sind die Weisen nur phänomal beschrieben, nicht analytisch zwingend abgeleitet, sie liegen nicht auf derselben transzendentalen Geltungsebene. So bedingt also die Prämissen des Ganzen sind, so kritisierbar die Teile!

5. Resultat

Tragisch: Wie kein zweiter im 20. Jahrhundert hat Jaspers Wirklichkeit umfassend weit gedacht, ohne doch den Begriff analytisch klären zu können. Wenn im Nachlaß zur Phil. Logik kaum noch vom Umgreifenden, viel mehr von Wirklichkeit die Rede ist („Gehen wir aus von den Weisen des Umgreifenden, so ist Wirklichkeit das Sein selbst in der Transzendenz“ (Bd. I S.90), so doch auch immer noch, wie Heinrich Rickert oder Nicolai Hartmann, vom Unwirklichen (S.84), als gäbe dies einen widerspruchsfreien Sinn.

Logische Klärung ist mit vorwiegender phänomenaler Zugangsweise nicht möglich. So ist der späte Jaspers in einer anderen Weise gescheitert als seine frühe sogenannte Philosophie des Scheiterns es nahelegt: „Es gibt praktisch nur eine Front von Ablehnung“ (W.Schneiders, Karl Jaspers in der Kritik,S.262 ). Das gilt selbst für seine engsten Gesprächspartner . Am 29.4.66 schreibt er Hannah Arendt über sein Grundwissen wie über etwas ihr Unbekanntes:“.Niemand reagierte auf diese Gedanken...Bin ich einem Spleen verfallen?“


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Letzte Änderung dieser Seite: 02.05.2003




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