Habermas und Wirklichkeit
(5.7.01)
1.Problemstellung

Der diesjährige Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, Jürgen Habermas, ist nicht nur der im In- und Außland seit langem meistzitierte deutsche Philosoph, sondern auch einer der umstrittensten Denker seit der Studentenrevolte von 1968, als eine deren auslösenden Autoritäten er anfangs sehr einflußreich war. Er polarisiert überall : In der Rolle des Philosophen als selbsternannter Statthalter der Vernunft m Sinne Kants, in der des Sozialwissenschaftlers als Hüter des Erbes Max Webers, in der des politischen „Präzeptors Germaniae“ etwa in Ablösung des Karl Jaspers der fünfziger und sechziger Jahre. So alles für sich reklamierend, bestreiten ihm aber Philosophen die Redlichkeit Kants, Wissenschaftler die Eindeutigkeit und Objektivität eines Max Weber, Politiker die parteipolitische Neutralität eines Jaspers. Als Philosoph ist er vielen abwertend nur ein Schulphilosoph, als Wissenschaftler nur ein Ideologe , als ethischer und poltischer Denker nur Gesinnungsapostel und militanter „Linker“. Die Frage ist, warum.

Die Antwort ist wichtig und bezieht sich hier nur auf einen einzigen, allerdings zentralen Gesichtspunkt, das Wirklichkeitsverständnis. Ausgehend von der vorerst letzten summarischen philosophischen Verlautbarung, „Wahrheit und Rechtfertigung“, 1999 (WR), läßt sich dabei ein aufschlußreicher Blick auf das Werk als Ganzes werfen.


2..“Wirklichkeit“ im Werk.

Im bestimmten Unterschied etwa zu Jaspers ist für Habermas Wirklichkeit nirgendwo ein Thema, das expliziteine Behandlung erfährt, höchstens ein Randthema, das immer dann ins Spiel kommt, wenn die Behauptung ergänzt werden soll, daß all unser Wissen prinzipiell sprachabhängig ist. Insofern ist auch für ihn Wirklichkeit ein Grenzbegriff. Die Frage ist nur, als was und mit welcher Konsequenz! Indem der Autor in seinem Endlosdiskurs seit 1963 diese Frage niemals auch nur ansatzweise beantwortet, - Begriffe sind ohnehin lästige Nebensache, - klärt er auch nie explizit das grundsätzliche Fundament, von dem her er seit vierzig Jahren die meisten philosophischen Kontroversen in Deutschland in der ersten Reihe mitbestimmtt.

Weil Habermas „Wirklichkeit“ nicht explizit thematisiert, kommt es zu unterschiedlichen Behauptungen über sie: Habermas spricht z.B. öfters nebenbei von dem , a) was wirklich „ist“, b) was wir als wirklich „erklären können“, c) als was sie sich als „das Ganze der verarbeiteten und der zu erwartenden Widerstände - bemerkbar“ macht WR, 37), d) als was wir „nackt“ nie zur Verfügung haben (48, 287, 246), e) was einem Arbeitsvorgang „nicht frontal, sondern mitlaufend begegnet“ (WR,203, 287), was sich d) für Gesprächspartner „mit der regulativen Idee einer „Summe alles Erkennbaren“ verbindet, g) mit dem man „Kontakt“ haben (208), h) was Gesetzen folgen kann (242), i) was in etwas „Korrespondenz“ verbürgen kann (243, 245) , j) was immer schon interpretiert ist (244), k) was „repräsentiert“ werden kann (249), l) was “instrumentell bewältigt“ werden kann.(269) usw. Den Terminus „Sein“ belegt er kaum differnziert anders (246).

3.„Wirklichkeit“ als Definition.

„Was wirklich ist“, meint Habermas, „können wir nur im Rekurs auf das, was wahr ist, erklären“ (WR152,152,auch246, 286). Das impliziert Folgendes 1) Für Habermas muß sich grundsätzlich Wahrheit nicht vor dem Wirklichem rechtfertigen, sondern umgekehrt. 2) Wirklichkeit ist nicht etwas unhintergehbar Klärungsbedürftiges, sondern etwas gegeben Er-klärungsbedürftiges. 3) Als erklärungsbedürftig ist sie aber dann etwas in der Welt, nicht umgekehrt das, dem wir ohne Welt keine Bedeutung geben können. 4) „Welt“ ist schließlich der weitere Begriff und 5) Intersubjektivität der überhaupt weiteste, insofern Wahrheit ohne Intersubjektivität nicht möglich ist. Der begrifflichen Logik nach denkt also Habermas implizit Intersubjektivität vor Wahrheit, Wahrheit vor Welt und Welt vor Wirklichkeit. Diese Auffassung ist unhaltbar.

Intersubjektivität kann nicht das unbedingt Letzte sein, weil sie -a) selbst gar nicht ohne Selbstwiderspruch als etwas Un- bzw Überwirkliches gedacht werden kann, -b) eigenständig gedacht doch nicht aus sich heraus ohne die Subjektivität von Subjekten hergestellt werden und Bestand haben kann, -c) die erklärungsbedürftige Welt nicht aus sich heraus deduzieren kann und -c) in der Zeit rational und erkenntnismäßig grundsätzlich fallibel und reversibel bleibt. Habermas ist von seinem (frühen) Irrtum deshalb nie genesen, weil er seine erkenntnistheoretische Ausgangsposition von Fichte und dem frühen Hegel gegen Kant mit der Selbsttäuschung über die Jahre stereotyp hinüberrettete, es gäbe in der Geschichte des Denkens einen gültigen Paradigmenwechsel von dem ontischen Logosdenken der Griechen, über den Mentalismus von Descartes bis Husserl hin zur Intersubjektivität, gerade so als ob es nicht auch schon Platon um Intersubjektivität gegangen wäre, oder als ob wir heute in der Vergewisserung von Intersubjektivität auf identifizierende Begriffe und Bewußtseinserfahrungen straflos verzichten dürften. Ein fataler Fehler: In eins Adornos Aversion gegen Ursprungsphilosophie, Wittgensteins Postulat des Sprachprimats und Heideggers seinsgeschichtliche Hermeneutik in einem Handstreich auf den wahren Nenner einer angeblichen verbindlichen Moderne bringen zu wollen! Insofern Habermas, an diesem Schema festhaltend, Kant in letzter Instanz immer dem Mentalismus (Bewußtseinsphilosophie) , Max Weber dem Szientismus und Jaspers dem liberalen Dezisionismus zugeschlagen hat, verschleierte er sich in eigener Sache die prinzipielle Ungelöstheit der transzendetalen Metareflexion (Kant), des Werturteilsproblems der Sozialwissenschaften (Max Weber) und der existenziellen Verantwortlichkeit eines wissenden Nichtwissens (Jaspers).


4. Die Folgen.

Der Preis eines so unzureichenden Wirklichkeitsverständnisses ist hoch. Weil Habermas a) Intersubjektivität mit unbedingter Wirklichkeit verwechselt, geraten ihm philosophisch unversehens und abwechselnd Momente der Intersubjektivität, so wie Lebenswelt, Sprache, Kommunikation, ideale Sprechgemeinschaft , Sinn oder Verständigung, zu „quasitranszendentalen“ Unhintergehbarkeiten, deren Evidenz jeweils bloße Behauptung bleibt. Insofern er b) die Welt nicht mit Kant in ihren konstitutiven Grenzen für das Erkennen klärt, sondern als Moment von Wahrheit aufzudenken sucht, muß er den eigenständigen Zugang der objektivierenden Wissenschaften zu ihr kritisieren und dabei die verantwortliche Praxis theoretisch-normativ überfrachten. Insofern er c) Subjektivität als Mentalität den eigenständigen Zugang zur Wirklichkeit grundsätzlich bestreitet, verweist er individuelle Verantwortung auf irgendwie kollektive Vermittlung, die argumentativ formal und abstrakt bleibt. Insofern er e) als Zeitbeobachter im verbindlichen Bewußtsein , „Speerspitze der Moderne“ zu sein, Kritik als eine abstrakte Rechtfertigungspraxis betreibt, läuft er meist konkreten Situationswechseln (Die Eule der Minerva läßt grüßen!) hinterher, oder verbreitet sich aus bloßer Opposition über Trivialitäten, die die Spatzen auch ohne Metadiskurs von den Dächern pfeifen.

Das Gesamtwerk von Habermas zeichnet sich deswegen a) philosophisch weniger durch seine Tiefe, denn durch die heute unvergleichliche Breite seiner rezipierenden Auseinandersetzungen mit eigentlich allen zeitgenössischen Schulpositionen aus. Es geht dabei aber faktisch immer gegen theoretische „Ismen“ in Verteidigung des einen „universalpragmatischen“ wahren „Ismus“. Wissenschaftlich b) vermochte Habermas in endloser Fortschreibung des Werturteilsstreites von 1914 szientistische Mißverständnisse von Popper über Luhmann bis hin zur Postmoderne aller Schattierungen an Schwachstellen zu treffen, ohne doch selbst jemals zureichend Wissenschaft klären bzw. seinen Sozialwissenschaften ein methodologisches Fundament sichern, noch deren Niedergang nach 1968 aufhalten zu können. Ethisch c) kann Habermas bis heute nichts anderes postulieren, als was er tautologisch von seinem eigenen Ansatz immer schon voraussetzt, so wenn er jetzt in der PID-Debatte den Embryo als potentiellen Diskursteilnehmer gewissermaßen zum „Bürger Embryo“ (FAZ, 1.7.01) erklärt. Politisch e) hat sich Habermas auf seinem Weg immer als Wortführer der Linken verstanden, auch wenn er inzwischen zu Positionen gelangt ist, die in vielem genau jene sind, gegen die er sich ursprünglich richtete (Z.B. Beurteilung von Marktwirtschaft,Recht, Rechtsstaat, NATO usw). Diesen Sinneswandel allein auf die veränderte Grundsituation zurückzführen, hieße denjenigen Unrecht tun, die z.B. schon in den sechziger Jahren ein Amalgam aus Neomarxismus und Psychoanalyse für kein zukunftsträchtiges Grundwissen hielten, Revolution sehr viel weniger wohlwollend bewerteten und sogenannte emanzipative Institutionenkritik sehr viel zurückhaltender, später KZ - und Gulagvergleiche aber sehr viel toleranter. Oder denen, die in den neunziger Jahren ein rechtzeitiges Eingreifen gegen Milosevic forderten („Bekehrung“ auch hier erst nach Sebrenica, SPIEGEL 32/95).

5. Resümee

Insgesamt eine vernichtende Bilanz. Wenn heute Habermas etwa in der Auseinandersetzung mit der Postmoderne (auch Sloterdejk usw) Vernunft und Augenmaß zu repräsentieren scheint, so weniger seiner Philosophie als seiner höchst privaten gesunden Urteilskraft wegen, die ihn trotz allem über die Jahre begleitet. Weil darüber aber auch andere verfügen, braucht man Habermas nicht unbedingt zu lesen. Mehr noch, besser nicht, weil sich die Quintessenz seiner wissenwerten philosophischen Botschaft in weniger als fünf Minuten vermitteln läßt, demgegenüber die Monate nicht lohnen, um diese aus den endlosen Wiederholungen und Neuanfängen der jeweils um das letzte Wort bemührtenTexte herauszufinden.

W
issensnotwendig, weil intersubjektiv evident demonstrierbar ist hier allein: Daß a) Argumente im Blick auf eine prinzipiell unhintergehbare Wirklichkeit Letztbasis für vernünftige Überzeugung sind (Was Habermas behauptet, aber unentwegt fundamentalistisch konterkarriert), daß b) die besseren Argumente nicht nur meine , sondern auch die des Anderen sein können (Was Habermas mit Karl Otto Apel dahin mißversteht, so als handle es sich um keinen Anspruch, sondern um ein Erkenntnisapriori analog Kants oberster Synthesis der Verstandesbegriffe), daß es c) Spielregeln der Argumentation in der gemeinsamen Anerkennnung von Wahrheit geben muß, wenn es nicht beim Überreden bleiben soll (was Habermas eben so permanent verteidigt wie verkennt, wenn er Wahrheit nicht als etwas Wirkliches begrifflich definiert, sondern als das Vorgängige aller Wirklichkeit der Fraglichkeit überläßt), daß d) die Kriterien der Wahrheit nicht ideologisch vorgeschrieben werden dürfen (was Habermas nie ganz zu vermeiden wußte, wenn er einseitig alternative „Wahrheitstheorien° diskriminiert), und e) daß argumentatives Engagement erforderlich ist, wenn nicht irrationale Gewalt mangels Widerstand überhandnehmen soll (der einzige Punkt, bei dem Habermas keine Defizite hat).


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Letzte Änderung dieser Seite: 02.05.2003