Skandal im Altersheim: Orientierung?

I

Ungewöhnliches sorgte in letzter Zeit für Irritationen unter den Profis des Immanuel-Kant Gymnasium. Ein Gespenst schien sein Unwesen zu treiben, an der „Altenpflegeanstalt Sinstorf“, wie Schüler gerne ihre Bildungsstätte nennen, wenn sie sich schriftlich zu ihr äußern. Sogar einen Konferenzbeschluß hat es gegeben: Pflegte doch dieser Abiturjahrgang ausgerechnet beim Erscheinen des Seniors der Anstalt, das bin ich, im Fachraumgebäude in der Regel irgendwie unheimlich zu lärmen. Ein fröhlicher Lärm, gewiß: So viel artikulierte Freude war noch nie. Oder doch?

Noch nicht vergessen ist der große Abgang, den vor zwei Jahren der damalige Abiturjahrgang dem scheidenden Oberstufenkoordinator Viktor Wittkowski bereitete. Das neuerliche Spektakel konnte dagegen nach außen provokativer, weniger ordentlich, weniger würdevoll, weniger öffiziös, weniger seriös wirken, mithin weniger eindeutig. Statt feierlich ging es fidel zu: Würdigte man dort eine Respektsperson, die bekanntlich für Ordnung stand, schien es sich diesmal eher um Eruptionen vis-a-vis einem Lustobjekt zu handeln, das man mit Chaos und Destabilisierung assozierte. Ein Hauch von Frivolität lag in der Luft, der Mob, sprich Schüler, schien für Außenseiter des Establishments Partei zu ergreifen, gar beängstigend mobil zu machen.

Entwarnung ist angesagt, denn um eine Bedrohung, gar eine Verschwörung handelte es sich nicht, davon müßte der Autor dieser Zeilen wissen. Da wurde auch nicht lediglich den Ritualen weitergehuldigt, die einmal Wittkowski galten, denn dazu stehen beide Charaktere für zu Unterschiedliches. Frei nach Nietzsche hier einen Kult des Apoll, dort einen des Dionysos am Werke zu wähnen, wäre wiederum zu weit gegriffen, denn über mutmaßliche Orgien haben auch akribische Nachforschungen der Schulleitung nichts Sicheres herausgefunden: Der Autor dieser Zeilen bezeugt hier noch einmal feierlich, daß er unzweideutig stets Maßhalten predigt und vorlebt! Er selbst kann auch nur raten, was da gespielt wurde!

Hat er sich etwas vorzuwerfen? Sein Konterfei hat bislang noch nicht genügt, bei Anwesenden spontan Heiterkeit zu bewirken. An Witz kann er sich mit dem Kollegen Voigt nicht messen! Er ist weder Querdenker noch Genie noch wahnsinnig, noch ist er eine Kombination von "Genie und Wahnsinn", so wie sich der Schauspieler Kinski gern präsentierte. Keineswegs ist er für didaktische Spitzenleistungen bekannt. Es stimmt auch nicht, daß dieser Jahrgang außerhalb des Unterrichts mehr getrunken hat als andere (hoffentlich!). Und der Verweis auf die Vorfreude des Wochenendes jeweils freitags in der 6. und 7. Stunde kann schon gar nicht die gültige Antwort bringen, denn dann wäre es auch andernorts ähnlich lustvoll zugegangen. Was sollte das Ganze also?

So komplex das Phänomen auch sein mag, etwas spielt bestimmt eine Rolle, wozu sich die Schüler selbst äußern müßten. Handelte es sich dabei um den Auslöser, dann allerdings hätten wir es statt nur mit einem Skandälchen für Kurzzsichtige mit einem handfesten Skandalon zu tun, das den Nerv trifft, weil die Virulenz seiner Verursachung in der Tat Angst einflößen kann: Vielleicht feiern die Schüler ja „Orientierung“!

II

Denn sollte die Orientierung des Philosophieunterrichtes tatsächlich ein wesentlicher Grund für die subversiven Stimmungsbekundungen sein, muß sich ja ein Umfeld dupiert sehen, das bisher Orientierungsansprüche von Philosophie als überflüssige Spinnerei bedingungslos abgelehnt, allenfalls als privates Hobby toleriert hat. Die öffentliche Bedeutungslosigkeit von Gegenwartsphilosohie heute wurde da nahtlos mit allem assoziiert, was irgendwie grundsätzlich zum Vortrag kam. Kaum vorstellbar deshalb, daß etwas, zu dem man keine Fragen hatte, zu dem man sich nichts anhören mochte, das man nicht las, weil man sich selbst dafür viel zu kompetent und gesund hielt, daß dies, wie etwa Anno 68, den Betrieb stören könnte: Einen Betrieb, in dem auf Philosophie (weil angeblich viel zu leicht), niemals Rücksicht genommen werden mußte, in dem mögliche Leistungskurse koordinatorisch (Weil eher Gelaber) ohne Rücksprachen ausgeredet werden durften, in dem man Schülerwünschen niemals entgegenzukommen brauchte (weil Unsin wohl Unsinn bleiben muß, von welcher Person auch vorgetragen!) und in dem man die zweistündigen Grundkurse unwidersprochen so vollstopfte (bei Unterhaltungsveranstaltungen ja nicht so wichtig!), daß Vergleiche zur Massentierhaltung aufkommen konnten - im bestimmten Unterschied etwa zu manchen Leistungskursen in Kernfächern, wo man mit weniger als sieben Teilnehmern sich dann als eine gepäppelte Elite fühlen durfte.

Dabei leuchtet auch dem Dümmsten ein, daß nur der zu Recht sich moralisch fühlen darf und auf der Höhe der Zeit, der auch argumentativ begründen kann, was er unter Moral versteht und unter seiner Grundsituation. Wer das nicht weiß, ist ungebildet. Wer darüber hinaus aber Gesprächsangebote systematisch ausschlägt, wer über ein Vierteljahrhundert hinweg kein einziges Mal auf grundsätzliche Kritik reagiert, der ist obendrein reaktionär. Das läßt sich keiner gern sagen, es muß sich aber der wohl anhören, der zudem den expliziten Vorwurf des Reaktionärs einfach zu ignorieren gelernt hat. Solcherart Taubheit entschuldigt nicht mehr, daß der Prophet im eigenen Land noch nie etwas gegolten hat. Denn mit Prophetie hat das dann nichts mehr zu tun, eher damit, daß da welche existieren, die entweder nicht einmal wissen, was „reaktionär“ bedeutet, oder denen eben schon immer alles egal gewesen ist, um, entsprechend dem eigentlichen Sinn des Wortes, im Konfliktsfall die eigene vorteilhafte Ruhe um jeden Preis durchzusetzen. Solch blanker Reaktion darf ein jeder den geistigen Totenschein ausstellen, setzt man „Geist“ hier einmal in Gegensatz zum Interesse! (Ganz besonders geistig tot an vielen Schulen sind heute z.B. unbelehrt gealterte, weil autoritär gewendete, ehemalige Achtundsechziger, die immer noch in Freund/Feind-Kategorien denken, unentwegt weiter auf die da oben schimpfen und stets unterstellen, sie selbst wären gemeint, wenn in der Tat von Schülern die Rede ist!)

Der Terminus „Altenheim“ ist ja nur dann negativ besetzt, wenn es sich um reaktionäre Alte handelt. Da er sich aber so hartnäckig hält und der negative Akzent dabei so unverhohlen mitschwingt, obwohl doch unter den Insassen so viele nette Menschen sich befinden, die einen so auffallend ungezwungenen, offenen Umgang miteinander pflegen, - Angst hat an dieser Schule ja schon lange keiner mehr, ein besonderes Verdienst des Schulleiters! - , bietet eine Abizeitung wieder die Gelegenheit, daran zu erinnern, was diese Bildungsanstalt, die ironischerweise den Namen eines der drei größten Philosophen aller Zeiten trägt, noch mehr sein könnte ohne jene resistente Indifferenz von oben. Die meisten Innovationen an dieser Schule verdanken sich ja bisher den Schülern, so wie die mediale Schüleröffentlichkeit stets identisch gewesen ist mit der kritischen Schulöffentlichkeit überhaupt: Der Rest war, wie an anderen Schulen auch, nicht unbedingt unfrei oder unsachlich, aber Hofberichterstattung!

III

Bis zur Hofberichterstattung gelangt selten, was sich inhaltlich meinungsbildend an der Basis tut, z.B. im Philosophieunterricht: Manch einer mochte wohl meinen, daß es sich dabei um gar keinen richtigen Unterricht gehandelt hat, so sehr mußten die Unterschiede zu den gängigen Lernfächern auffallen. Strukturierung und Systematik konnte bei Unaufmerksamkeit leicht aus den Augen geraten. Auch ist wohl bei dem laufende Neben- und Ineinander von Aktuellem, Systematischem und Bildungsgeschichtlichem trotz regelmäßiger Eingangszusammenfassung nicht jedem jederzeit der Hintergrund präsent gewesen, auf dem das Ganze zusammgehörte.

Daß es dabei aber immer um Orientierung ging, ob explizit oder implizit, davon scheint mir diesmal mehr verstanden worden zu sein als jemals zuvor. Dazu hätte dann auch die Arbeitsgemeinschaft beigetragen, denn bei dreißig Kursteilnehmern und den zwei dürftigen Wochenpflichtstunden, von denen auch noch jede fünfte aus organisatorischen Gründen ausfiel, hätte wohl kaum soviel Motivation zusammenkommen können. Vielleicht war es auch nur die ausgiebig genutzte Gelegenheit zum selbständigen schriftlichen Arbeiten, die viele dank Internet, aber auch dank teils erstaunlicher Kreativität und Neugierde nutzten, um meine Korrekturzeiten mit umfangreichen Werken erheblich zu verlängern.

Daß Philosophie als Schulfach nicht Luxus ist, nur weil sie sich den Luxus der Fragefreiheit erlauben darf, daß sie als das Fach aller Fächer ihrem Anspruch gerecht werden kann, wenn sie im stets Bedingten immer erneut den Blick auf das Unbedingte zurückgewinnt, und daß sie als das Reflexionsfach par excellence quantitative Wissensvermehrung betreibt, indem sie komplementär zu den Lernfächern für qualitative Wissensverarbeitung sorgt, scheint in diesem Jahrgung erstmals mehrheitsfähig begriffen zu sein. Die Einsicht, daß Philosophie und Lernfächer zusammen erst eine gute Schule ausmachen, teilt übrigens erkennbar auch das neue Schulgesetz. Dabei lag doch Interdisziplinarität immer auch schon als Grundforderung den bisherigen Lehrplänen zugrunde! Sie blieb auf dem Papier, weil verbindende Inhalte im Schulbetrieb der Gymnasien seit 1972 mehr und mehr auf der Strecke blieben. Das Resultat ist eine geistige Ödnis, und: „Die Wüste wächst“ (Nietzsche)!

Altbundespräsident Herzog hat in seiner letzten großen Rede vom 13.4.99 gesagt: "In einem aber bin ich mir sicher, wir brauchen in der Wissensgesellschaft insgesamt nicht mehr zu lernen - aber wir müssen das Richtige lernen". Wenn die gute Laune auch etwas damit zu tun hatte, daß einige, so wie Herzog im weitern Text zeigt, verstanden haben, daß Philosophie für sich selbst und die anderen Fächer, auch die Informatik, etwas Wichtiges, weil Richtiges und umgekehrt, zu vermitteln hat, weil sie allein die Stätte ist, an der das "Was" des Richtigen grundsätzlich hinterfragbar ist und Information ihren letzten Sinn bekommt, dann wäre der Eklat so gar keiner, eher Zeugnis von Reife, Chance für alle, möglicher Jungbrunnen eines Bildungsereignisses!

IV

Natürlich gab es auch (wie immer) die anderen, die vom wichtigen Richtigen nichts mitbekamen, weil sie das Ganze eher als Gaudi genossen: Jene, die schon mit beim Appell "Thesen und Thesenkontrolle" im Schwenken ihrer Klarsichtshüllen (einge-denk des überlieferten Slogan "Er ist ja wahrhaft ein Genie, aber verstehen werd ich´s nie" ) straks von Stirnhirn auf Zwischenhirn umschalten konnten, um dann nur noch gut gelaunt der Show, die ja auch eine war, beizuwohnen. Ihnen, die den Südkurvenflair vom HSV ins Klassenzimmer trugen und sich dabei so sauwohl fühlten, daß sie selbst rhytmisch bewegt gern in Gesängen antworteten, Ihnen, die Pflicht verabscheuten, um die Kür als gemütlichen Teil mißzuverstehen, sind folgende Sätze schwarz auf weiß als Abschiedsgruß gewidmet, so daß sie später nicht behaupten können, niemand hätte ihnen gesagt, was sie nicht mitbekommen haben:

a) Grundsätzlich problematische Inhalte, nicht beliebige Texte standen in Frage.

b) Rationalisierung und Individualisierung wurden als unvermeidliche Trends zur Kenntnis genommen, aber nicht fetischisiert.

c) Information und Wissen wurde bewußt auseinandergehalten.

d) Das Primat der Politik wurde als überlebensnotwendig ernst genommen.

e) Der weitesten Theorie entsprach im Anspruch die konkreteste Praxis.

f) Orientierung und Verantwortung wurden auch definiert, nicht nur angestrebt.

g) Zu jedem Problem gehörte die Erörterung des zugehörigen Grundkonsenses.

h) Der Selbstwiderspruch war das Kriterium für die Kontrolle von Grundkonsens.

i) Die Kontrolle von Grundkonsens entfalteten wir begründet in der Tradition der Aufklärung von Platon über Kant bis zu Max Weber als die heute überhaupt weitest denkbare vernünftige Grundposition.

i) Das Bemühen um argumentativen Grundkonsens zeigte immer wieder, daß heute sehr viel mehr davon möglich ist als gemeinhin öffentlich zugestanden wird.

j) Philosophische Begriffe wurden nicht übernommen, sondern eigenständig analysiert und begründet eingeführt.

k) Der konsensstiftende Beitrag der heutigen Schulphilosophie wurde als skandlös, weil widersprüchlich oder beliebig registriert.

l) Allgemeinbildung war uns das, was und wie man etwas weiß bzw nicht weiß.

m)Grundwissen für Allgemeinbildung wurde vertreten und entfaltet.

n) Last but not least: Fanatismus wie Gleichgültigkeit galten zwar noch nicht als das Böse selbst, aber als sein wesentlicher Nährboden.

Zusammenfassend ging es um die unbedingte Herrschaft des Arguments als die conditio sine qua non dafür, daß dauerhaft Frieden möglich wird. Subjektives Lernziel war die grundsätzliche Urteilskraft, die ein jeder für sich in Anspruch nimmt, aber doch nur selten reflektiert, was nicht zuletzt wieder die intellektuellen Begleiterscheinungen des Kosovokrieges zeigten. Urteilskraft ist aber nur zu haben, wenn man sich vorbehaltlos dem Ganzen stellt, das war er, „unser Geist“!

V

Daß „Orientierung“ an der Schule gleich wie ein Kernfach ernst genommen werden muß, daß von Allgemeinbildung wieder gesprochen werden darf usw., beginnt sich allmählich herumzusprechen. So fordert der Nestor der deutschen Pädagogik, Hartmut von Hentig, neuerdings in seinem Buch "Ach, die Werte!", „daß allen Lehrern aller Stufen und Gegenstände während ihres Studiums eine wenigstens zweisemestrige, eigens für sie konzipierte Veranstaltung, "Philosophische und ethische Fragen des Lehrberufs" zuzumuten ist. Und Günter Graß setzt in der ZEIT vom 20.5.99 ("Der lernende Lehrer") noch einen drauf, wenn er anregt, daß zu diesem Zweck auch "Lehrerinnen und Lehrer im Dreijahresturnus für sechs Monate Abstand nehmen von ihrer täglich praktizierten Lehrtätigkeit". Ich selbst wäre da schon glücklich, wenn meine Kollegen wenigstens einmal in ihrem Leben Platons Apologie lesen würden, Pflichtlektüre der 10. Klassen.

Vielleicht wäre dann ausgelassene Freude an Schulen nicht mehr so anstößig, wie in unserem Fall, weil es sich um etwas Wechselseitiges handelte! Professor Schnädelbach hat zur Namengebungsfeier des Immanuel-Kant Gymnasiums die Vermutung ausgesprochen, Kant hätte sich über diese Ehrung gefreut. Er hätte sich sicher auch gefreut, zu beobachten, wie philosophische Orientierung Freude vermittelt, wenn dem mal so war. Denn diese Hochstimmung gründete dann ja in der Liebe zur Weisheit, (Philo-Sophia) und ist stimmungsgemäß wesensverwandt mit Humor, der begrifflich immer auch Ernst beinhaltet: Indem wir uns "wahrhaft" freuen, vergessen wir ja nicht, daß wir sterbliche Wesen sind, und wundern uns vielleicht insgeheim über beides!

Persönlichkeit, sagt Max Weber, hat nur, wer ganz der Sache dient. Geistig jung erhält sich, wer bei seiner Sache bleibt. Wahrhaft mit der Zeit geht, wer zu seiner Sache vor einem zeitlosen Hintergrund auch Distanz zu halten vermag. Daß ein jeder von Euch die Sache finden möge, für die sich sein Leben lohnt, das wünsche ich von ganzem Herzen zum Abschied von der Schule. Und bitte nicht vergessen: Nur die Startblöcke sind gesetzt, laufen muß jetzt ein jeder selbst, - maßhaltend natürlich!

Zu guter Letzt: Die Anzahl der philosophischen Zielmarken kontrastiert die erreichbare Punktezahl in der Oberstufe, die Anzahl der Kapitel entspricht, wie bei uns üblich, den Konstituentien von etwas Wirklichem überhaupt. Und im übrigen: Meine Generation hatte noch keinen Politik- und Philosophieunterricht. Im gleichen Alter, wie Ihr jetzt, besaß ich auch noch keine Bücher. Was ich dagegen besaß war die bewußt erlebte Erinnerung an die Stunde Null 1945, von der ich mir mit den vielen anderen meiner Generation sicher war, daß sie sich niemals wiederholen darf. Also, Mut zur Zukunft, Ihr seit heute fast alle schon weiter als wir damals im vergleichbaren Alter!